Tag & Nacht




In Frankreich haben rund 2,5 Millionen Menschen Schwierigkeiten mit der französischen Sprache – sie können nicht ausreichend lesen, schreiben oder sich verständigen. Gerade in einer Gesellschaft, die stark auf schriftliche Kommunikation setzt, führt das oft zu erheblichen Einschränkungen im Alltag. Doch es gibt Hoffnung: In Paris engagiert sich die Organisation „Savoirs pour réussir Paris“ dafür, Erwachsenen und jungen Menschen ab 16 Jahren das Lesen und Schreiben beizubringen.

Ein Raum der Konzentration und des Lernens

In einem kleinen, gemütlichen Raum im 20. Arrondissement von Paris sitzen mehrere Lernwillige. Wer diesen Ort aufsucht, muss sich zuvor durch den Großstadtdschungel navigieren – Straßenschilder lesen, den richtigen Metroausgang finden. Für die Teilnehmenden ist das keine Selbstverständlichkeit, doch sie kommen regelmäßig hierher, manche schon seit Jahren.

Paméla gehört dazu. Sie arbeitet in einer Keramikwerkstatt und erzählt stolz von ihren Fortschritten: „Ich kann endlich Straßenschilder entziffern, Supermarktetiketten verstehen und sogar im Internet recherchieren.“ Eine enorme Erleichterung im Alltag! Aber es gibt noch einen ganz persönlichen Erfolg: Ihre Leidenschaft für Manga hat eine neue Dimension bekommen – sie kann die Geschichten nun selbst lesen.

Fehlermachen erlaubt – und erwünscht!

„Autonomie ist unser Schlüsselbegriff“, erklärt Martine, eine der engagierten Kursleiterinnen. Sie hat Mediationswissenschaften studiert und arbeitet ehrenamtlich für die Organisation. Ihr wichtigster Grundsatz: „Hier gibt es keine Angst vorm Fehler – wir helfen uns gegenseitig.“

Im heutigen Workshop steht nicht nur das Entziffern von Texten auf dem Programm. Es geht um Verstehen, um Erinnern und um den Sinn hinter den Worten. Lesen ist schließlich weit mehr als Buchstaben aneinanderzureihen.

Olmo, 24 Jahre alt, besucht die Kurse seit zwei Jahren. Er arbeitet in einer Verpackungsfirma und hofft auf eine bessere Zukunft – vielleicht sogar einen beruflichen Aufstieg. „Hier zu sein gibt mir Mut“, sagt er.

Aber es sind nicht nur die jungen Menschen, die sich weiterbilden wollen. Ein älterer Herr, der Jahrzehnte in einer Metzgerei gearbeitet hat, kämpft mit der modernen Technik: „Handys, Computer – ich verstehe das alles nicht.“ Für ihn ist das Lesenlernen ein Schritt in Richtung digitale Welt.

Martine sieht genau darin die Stärke der langfristigen Betreuung: „Wir können Schwierigkeiten erkennen und gezielt daran arbeiten.“

Eine bunte Gemeinschaft

Die Teilnehmenden kommen aus unterschiedlichsten Lebensrealitäten. Manche sind in Frankreich geboren, andere erst später eingewandert. Menschen, die auf der Suche nach Arbeit sind, Geflüchtete, oder solche, die einfach selbstständiger leben möchten – sie alle finden hier Unterstützung.

Perrine Terrier, die Leiterin der Organisation, beschreibt das Projekt als „ein Spiegelbild der Pariser Gesellschaft“. Die Mehrheit der Lernenden hat einen Migrationshintergrund oder wuchs in einem zweisprachigen Umfeld auf. Doch auch viele französische Muttersprachler*innen sind dabei. „Manche hatten eine ganz normale Schulzeit“, erklärt Perrine, „aber mit den Jahren haben sich ihre Kenntnisse abgebaut, sodass sie jetzt große Schwierigkeiten haben.“

Ein Beispiel ist Dominique, die in Lille geboren wurde. Sie wuchs in staatlicher Obhut auf, ihre Schulbildung blieb bruchstückhaft. Heute kämpft sie mit den Folgen.

Oder Isabelle, eine 46-jährige Ivorerin. „Ich habe bis zur fünften Klasse in meinem Heimatdorf gelernt, aber irgendwann alles vergessen“, erzählt sie.

Mehr als nur Buchstaben

Lesen zu können bedeutet mehr als nur Worte zu erkennen. Es geht um Eigenständigkeit, um Würde und darum, sich nicht im Alltag verloren zu fühlen. Isabelle bringt es auf den Punkt: „Es ist einfach unglaublich anstrengend, nicht richtig lesen und schreiben zu können.“

Und wer möchte sich schon ständig auf andere verlassen müssen, um eine Rechnung zu verstehen, einen Fahrplan zu lesen oder eine Nachricht zu beantworten?

Diese kleinen Erfolge sind es, die den Teilnehmenden Mut machen – und zeigen, dass es nie zu spät ist, um zu lernen.

Catherine H.

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