Die Nacht vom 13. auf den 14. Dezember 2024 sitzt tief im kollektiven Gedächtnis von Mayotte. Wer damals wach lag, erinnert sich an das Heulen des Windes, an Dächer, die wie Papier davonflogen, an das dumpfe Grollen von Bäumen, die im Dunkeln brachen. Chido hieß der Zyklon, ein Name, der harmlos klingt und doch alles veränderte.
Ein Jahr später wirkt vieles auf der Insel noch immer wie angehaltene Zeit. Manche Straßen sehen aus, als sei der Sturm erst gestern weitergezogen. Andere Orte zeigen vorsichtige Spuren von Aufbruch. Und mittendrin Menschen, die gelernt haben, mit Unsicherheit zu leben – schon vor Chido, doch seitdem mit einer neuen Schwere auf den Schultern.
Was bleibt von einer Katastrophe, wenn der Jahrestag kommt? Und was sagt dieser Sturm über die Zukunft eines französischen Überseegebiets aus, das ohnehin am Rand der Aufmerksamkeit liegt?
Die Nacht, die alles verschob
Chido traf Mayotte mit einer Wucht, wie sie die Insel seit Jahrzehnten nicht erlebt hatte. Meteorologen ordneten den Zyklon auf der Skala der großen Stürme ganz oben ein, vergleichbar mit einer Kategorie vier. Böen jenseits der 200 Kilometer pro Stunde fegten über Grande Terre und Petite Terre, rissen Wellblechdächer ab, knickten Strommasten, verwandelten Hütten und Häuser in Trümmerhaufen.
In vielen Vierteln blieb keine Zeit zur Flucht. Wer Glück hatte, kauerte sich mit der Familie in den sichersten Raum, hörte das Krachen, wartete, hoffte. Andere standen nach dem Sturm buchstäblich vor dem Nichts.
Ein alter Mann aus Kawéni erzählte später: „Der Wind sprach eine Sprache, die ich nicht kannte.“ Ein Satz, der hängen bleibt. Weil er mehr sagt als jede Statistik.
Ein Territorium mit offenen Wunden
Mayotte kämpfte schon lange vor Chido mit Problemen, die sich nicht einfach wegdiskutieren lassen. Hohe Arbeitslosigkeit. Enorme Wohnungsnot. Informelle Siedlungen, dicht an dicht gebaut, oft ohne solide Fundamente. Eine Bevölkerung, die schnell wächst, während Schulen, Krankenhäuser und Verwaltungen hinterherhinken.
Der Zyklon wirkte wie ein Brennglas. Alles, was vorher fragil war, zerbrach schneller.
Offizielle Zahlen sprechen von rund vierzig Todesopfern. Hinter dieser Zahl stehen Namen, Familien, Geschichten. Hunderte Verletzte kamen hinzu, Zehntausende verloren zumindest vorübergehend ihr Zuhause. Ganze Viertel lebten plötzlich unter Planen, notdürftig befestigt mit Seilen und Steinen. Regen drang durch. Hitze staute sich. Privatsphäre existierte kaum noch.
Manche sagten leise: Wir waren schon arm, jetzt sind wir sichtbar arm.
Häuser, Schulen, Netze – der lange Weg zurück
Mehr als 36.000 beschädigte Wohnungen meldeten die Behörden. In einem Gebiet, in dem ohnehin jedes feste Dach zählt, bedeutete das einen massiven Einschnitt. Rund sechzig Prozent aller Gebäude trugen schwere Schäden davon. Besonders betroffen: informelle Bauten, oft ohne Baugenehmigung, aber für viele die einzige Option.
Strom und Internet ließen sich relativ schnell wieder herstellen. Ein kleines Zeichen von Normalität in chaotischen Wochen. Doch Wasserleitungen, lokale Verkehrswege und Schulgebäude bereiteten größere Sorgen. In manchen Gemeinden fand Unterricht monatelang nur eingeschränkt statt. Kinder lernten in provisorischen Räumen oder gar nicht.
Eine Mutter aus Tsoundzou brachte es so auf den Punkt: „Meine Tochter fragt mich jeden Morgen, ob heute Schule ist. Ich weiß es oft selbst nicht.“
Solche Sätze erzählen mehr als jede Pressemitteilung.
Wenn der Wald fällt, fällt auch etwas im Inneren
Chido zerstörte nicht nur Häuser. Die Natur der Insel traf es mit voller Härte. Bis zu achtzig Prozent der Bäume in bestimmten Waldgebieten knickten um oder brachen ab. Hänge rutschten. Böden erodierten. Tiere verloren Lebensräume.
Der Wald von Mayotte erfüllt mehr als eine ökologische Funktion. Er schützt vor Erdrutschen, speichert Wasser, liefert Nahrung und Holz. Sein Verlust trifft die Insel gleich mehrfach.
Försterinnen und Förster arbeiten seit Monaten daran, invasive Arten einzudämmen und einheimische Bäume neu anzupflanzen. Eine Arbeit, die Geduld verlangt. Bäume wachsen langsam. Vertrauen in die Zukunft auch.
Wiederaufbau zwischen Aktenordnern und Baustellen
Ein Jahr nach dem Zyklon klingt das Wort Wiederaufbau in vielen Ohren hohl. Ja, es gibt Gesetze. Ja, es gibt Ankündigungen. Doch auf dem Boden der Realität geht vieles schleppend voran.
Mehrere Notfall und Reformgesetze passierten das Parlament. Doch Geldflüsse stocken, Verordnungen lassen auf sich warten, Zuständigkeiten verlaufen im Sand. Die lokale Verwaltung wirkt überlastet, manchmal auch überfordert. Dazu kommt ein ständiger Wechsel politischer Ansprechpartner in Paris. Kaum jemand bleibt lange genug, um ein Projekt wirklich zu Ende zu bringen.
Bauunternehmen klagen über teure Materialien und fehlende Fachkräfte. Container mit Zement kommen verspätet an. Handwerker fehlen. Manche Baustellen stehen wochenlang still.
Ein junger Bauleiter sagte frustriert: „Wir könnten mehr machen. Aber ohne Material baut niemand ein Haus.“
Leben unter Planen – Alltag im Provisorium
Besonders in den Randbezirken von Mamoudzou prägen blaue und graue Planen noch immer das Bild. Familien kochen auf offenen Feuern, Kinder spielen zwischen Trümmern, während der nächste Regenschauer droht.
Die Menschen arrangieren sich. Sie organisieren Nachbarschaftshilfe, teilen Wasser, passen gegenseitig auf die Kinder auf. Diese Solidarität hält vieles zusammen.
Gleichzeitig wächst die Müdigkeit. Ein Jahr ist eine lange Zeit, wenn jede Nacht Regen durch das Dach tropft. Wenn man ständig erklärt, warum man noch kein festes Zuhause besitzt. Wenn Versprechen sich wiederholen, ohne sichtbare Veränderung.
Wer hier lebt, fragt sich: Wie lange noch?
Staatliche Präsenz – zwischen Anspruch und Wirklichkeit
Frankreich betont regelmäßig seine Verantwortung für Mayotte. Minister reisen an, legen Kränze nieder, sprechen von nationaler Solidarität. Worte, die wichtig sind, ohne Frage. Doch viele Mahorais messen inzwischen lieber Taten als Reden.
Die schnelle Abfolge von Ministern für die Überseegebiete erschwert langfristige Strategien. Jeder bringt neue Prioritäten, neue Schlagworte. Kontinuität leidet darunter.
Ein Lokalpolitiker formulierte es bitter: „Mayotte fühlt sich manchmal wie ein Projekt an, das ständig neu gestartet wird.“
Erinnerung als Kraftquelle
Zum Jahrestag von Chido versammelten sich Menschen zu Gedenkfeiern. Kerzen brannten. Namen wurden genannt. Es ging nicht nur um Trauer, sondern auch um Würdigung. Der Einsatz von Rettungskräften, Nachbarn, freiwilligen Helfern rettete Leben.
Solche Momente schaffen Gemeinschaft. Sie erinnern daran, dass die Insel mehr ist als eine Summe von Problemen. Sie lebt von ihren Menschen, ihrer Kultur, ihrem Humor, sogar in schweren Zeiten.
Ein junger Mann flüsterte während der Zeremonie: „Wir sind noch da.“ Ein einfacher Satz. Ein starker.
Blick nach vorn – was Chido wirklich offenlegte
Der Zyklon stellte eine unbequeme Frage, die sich nicht mehr verdrängen lässt: Wie widerstandsfähig darf, wie widerstandsfähig muss Mayotte in Zukunft sein?
Es geht um mehr als das Reparieren von Schäden. Es geht um nachhaltige Bauweisen, um Stadtplanung, um soziale Gerechtigkeit. Um Bildung, Gesundheitsversorgung, legale Wohnmöglichkeiten. Um eine Entwicklung, die die Realität der Insel ernst nimmt.
Klimatische Extremereignisse nehmen zu. Zyklone verlieren ihren Ausnahmecharakter. Wer jetzt nur flickt, statt neu zu denken, riskiert beim nächsten Sturm dieselbe Tragödie.
Will man wirklich jedes Jahr erneut zählen, was zerstört wurde?
Hoffnung, die Arbeit verlangt
Trotz allem existiert Hoffnung. Sie zeigt sich leise. In neu gepflanzten Bäumen. In Schulklassen, die wieder lachen. In Initiativen junger Menschen, die ihre Insel nicht aufgeben wollen.
Diese Hoffnung braucht Unterstützung. Verlässliche Finanzierung. Klare Zuständigkeiten. Respekt vor lokalem Wissen. Und Geduld – von allen Seiten.
Mayotte steht an einem Scheideweg. Chido markierte keinen Endpunkt, sondern einen Wendepunkt. Ob daraus ein Neubeginn wächst, hängt davon ab, wie ernst man die Lehren dieses Sturms nimmt.
Oder anders gefragt: Was müsste noch passieren, damit Versprechen endlich Realität werden?
Die nächste Zyklonsaison rückt näher. Der Wind fragt nicht nach politischen Debatten. Er kommt einfach. Die Frage bleibt, wie vorbereitet die Insel dann ist.
Ein Artikel von M. Legrand
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