Abdullah Fauzi, ein Banker aus Nablus, steht um 4 Uhr morgens auf, um seinen Arbeitsplatz in Ramallah zu erreichen – und kommt dennoch oft zu spät. Früher dauerte sein Weg eine Stunde. Doch nach dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und dem darauffolgenden israelischen Militäreinsatz in Gaza wurden neue Straßensperren errichtet, die seine Fahrzeit verdoppelten.
Nun hat sich die Lage weiter zugespitzt.
Seit dem Waffenstillstand zwischen Israel und der Hamas sind zusätzliche Kontrollpunkte entstanden. Straßen sind gesperrt, der Verkehr wird über steile Nebenwege und Feldstraßen umgeleitet. Die Folge: eine mindestens vierstündige Fahrt in die Westbank-Metropole Ramallah.
„Man kann schneller nach Paris fliegen, als wir nach Hause kommen“, sagt Fauzi sarkastisch, während er am Atara-Checkpoint auf seine Kontrolle wartet.
Gewalt trotz Waffenstillstand
Während die Waffen in Gaza schwiegen, eskalierte die Lage in der Westbank. Radikale israelische Siedler brannten Häuser und Autos nieder – verärgert über die Freilassung palästinensischer Gefangener im Zuge des Gefangenenaustauschs. Kurz darauf stürmte das israelische Militär mit Drohnen und Kampfhubschraubern die Stadt Dschenin, ein bekanntes Zentrum palästinensischer Milizen.
Neue Kontrollpunkte zerteilen seither die Westbank und erlauben dem israelischen Militär, den Zugang zu palästinensischen Städten jederzeit zu kappen. Übergänge, die früher rund um die Uhr geöffnet waren, sind nun ausgerechnet während der Hauptverkehrszeiten geschlossen.
Erde, Betonblöcke, Eisengitter – überall tauchen neue Hindernisse auf. Wer früher mit einem Nicken durchgewinkt wurde, muss sich nun einer peniblen Kontrolle unterziehen. Israel begründet dies mit Sicherheitsmaßnahmen gegen Hamas-Kämpfer, doch viele Beobachter vermuten, dass die wahren Motive anders aussehen.
„Israel nutzt die Situation, um Siedlungsausbau und eine schleichende Annexion der Westbank voranzutreiben“, meint Tahani Mustafa, eine Analystin der International Crisis Group.
Das tägliche Leben gerät ins Stocken
Die Konsequenzen dieser Politik sind überall zu spüren. Familien werden auseinandergerissen, Handel gerät ins Stocken, Kranke kommen nicht rechtzeitig ins Krankenhaus.
Ahmed Jibril, Leiter der Notfalldienste des Palästinensischen Roten Halbmonds, berichtet von zahlreichen Fällen, in denen Rettungswagen trotz Notfällen an Kontrollpunkten warten mussten.
„Wir werden behandelt wie jeder andere Privatwagen“, sagt er frustriert. Am 21. Januar sei eine 46-jährige Frau an einem Checkpoint in Hebron gestorben, weil ihr Rettungswagen nicht schnell genug durchgelassen wurde.
Die israelische Armee erklärte, sie könne den Vorfall nicht bestätigen, verweist aber darauf, dass Sicherheitskontrollen auch medizinisches Personal betreffen.
Laut der UN-Behörde OCHA gab es bereits im November 2023 insgesamt 793 israelische Straßensperren in der Westbank – 228 mehr als vor dem Gaza-Krieg. Seit dem Waffenstillstand seien die Einschränkungen nochmals drastischer geworden.
Die „Bubble“ von Ramallah platzt
Ramallah galt lange als Insel der Normalität. Schicke Cafés, hippe Restaurants – die Stadt hatte sich den Ruf eines Zufluchtsortes erworben, in dem sich die harten Realitäten der Besatzung für einige Zeit ausblenden ließen. Doch damit ist es vorbei.
Wer hier lebt, muss mittlerweile stundenlang an Checkpoints ausharren, nur um Besorgungen zu erledigen oder Verwandte zu besuchen.
„Alles, was wir wollen, ist nach Hause zu kommen“, sagt die 70-jährige Mary Elia, die mit ihrem Mann seit zwei Stunden am Ein-Senia-Checkpoint festsitzt. „Sollen wir unsere Enkelkinder etwa nie wiedersehen?“
Während sie spricht, verzieht sie plötzlich das Gesicht. Sie müsse auf die Toilette, aber der Weg sei noch lang.
Eine nationale Obsession
Fragt man einen Autofahrer in der Westbank nach den aktuellen Kontrollpunkt-Öffnungszeiten, bekommt man eine präzise Antwort – oft exakter als eine Wettervorhersage.
Im Autoradio läuft eine fast beruhigend monotone Frauenstimme, die in Dauerschleife den Status der Checkpoints durchgibt: „Salik“ – offen, „Mughlaq“ – geschlossen.
Neue WhatsApp-Gruppen tauschen in Echtzeit Informationen aus, manche Fahrer erstellen sogar detaillierte Karten mit den schnellsten Umgehungsstraßen.
„Ich wollte kein Doktortitel in diesem Unsinn“, scherzt Yasin Fityani, ein Ingenieur, der wieder einmal im Stau feststeckt.
Stillstand kostet Geld
Doch für viele ist die Lage alles andere als witzig. Wer nicht pünktlich zur Arbeit kommt, riskiert seinen Job.
Nidal Al-Maghribi, ein 34-jähriger Busfahrer aus Ostjerusalem, ist verzweifelt. Er steckt an einem Checkpoint fest, ohne die Möglichkeit, umzukehren. Sein Chef hat ihn bereits zum zweiten Mal in dieser Woche angerufen – wieder kein Arbeitstag, wieder kein Gehalt.
„Was soll ich meiner Frau sagen?“, fragt er leise. „Mein Job ist unsere Existenzgrundlage.“
LKW-Fahrer haben es nicht besser. Obst verdirbt, Textilien werden beschädigt, Elektronik geht kaputt – all das treibt die Preise in die Höhe.
Die wirtschaftlichen Folgen sind verheerend. Das palästinensische Bruttoinlandsprodukt ist im vergangenen Jahr um 28 Prozent eingebrochen. Die Arbeitslosenquote in der Westbank liegt bei 30 Prozent.
Die wahre Funktion der Checkpoints
Laut Israels offizieller Begründung dienen die Kontrollpunkte der Sicherheit. Doch Palästinenser und Wirtschaftsexperten sehen darin vor allem eine Taktik, um das Leben in der Westbank unerträglich zu machen.
„Diese Barrieren haben nur ein Ziel“, sagt Wirtschaftsminister Mohammad Alamour. „Sie sollen Druck auf die Palästinenser ausüben, wirtschaftlich strangulieren und sie zur Auswanderung bewegen.“
Autor: Catherine H.
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