Tag & Nacht




Ein Jahr nach den heftigen Ausschreitungen im französischen Überseedepartement Neukaledonien im Mai 2024 taumelt das Gesundheitssystem Neukaledoniens am Abgrund. Was mit brennenden Barrikaden und plündernden Gruppen begann, hat sich nun in Krankenhäusern und Kliniken zu einer stillen, aber ebenso zerstörerischen Katastrophe ausgewachsen: einer medizinischen Krise ohnegleichen.

Die unsichtbare Frontlinie: Exodus im Gesundheitswesen

Das Médipôle in Nouméa – das größte Krankenhaus des Archipels – gleicht heute mehr einem belagerten Stützpunkt als einer medizinischen Einrichtung. Jeder vierte Mitarbeitende hat das Krankenhaus seit den Unruhen bereits verlassen. Besonders dramatisch ist der Aderlass in der Neurologie, Gynäkologie und Onkologie. Ganze Abteilungen wurden geschlossen, Betten abgebaut, Operationen abgesagt.

Warum kehren Ärztinnen, Pfleger und Fachpersonal ihrer Arbeit in Neukaledonien den Rücken? Die Antwort liegt in einer Mischung aus Angst, Frustration und Erschöpfung. Während der gewaltsamen Unruhen mussten viele Beschäftigte im Krankenhaus übernachten – nicht aus Pflichtgefühl, sondern weil draußen der Mob tobte. Einige wurden gar Opfer körperlicher Angriffe. Wer würde da noch bleiben oder zurückkommen wollen?

Wenn Gesundheitsversorgung zur Glückssache wird

Doch der Preis für diesen Exodus ist hoch – und er wird von den Patientinnen und Patienten gezahlt. Menschen mit chronischen Erkrankungen, Nierenversagen oder Krebs sehen sich plötzlich mit verschlossenen Türen konfrontiert. Dialysegeräte stehen still, Chemo-Termine werden verschoben oder vollständig gestrichen.

Die Zahl der Notaufnahmen hat sich verdoppelt. Aber: Wer heute eingeliefert wird, kommt oft zu spät. Diagnosen im fortgeschrittenen Stadium sind zur traurigen Routine geworden. Und in manchen Gegenden, besonders im dünn besiedelten Norden oder auf den abgelegenen Inseln, sind die kleineren Gesundheitsstationen nahezu verwaist. Es gibt Tage, an denen dort niemand mehr Dienst tut.

Ein Gedanke drängt sich auf: Was ist ein Gesundheitswesen wert, wenn niemand mehr da ist, der es betreibt?

Hilfloses Krisenmanagement

Natürlich versuchen die Behörden, gegenzusteuern. Mit Notmaßnahmen, etwa durch den Einsatz der nationalen Gesundheitsreserve oder die Kooperation mit privaten Kliniken. Doch diese Pflasterlösungen helfen kaum gegen den systemischen Aderlass.

Denn das Grundproblem bleibt ungelöst: das Vertrauen in die Stabilität des Landes – und damit auch in die Sicherheit des Arbeitsplatzes – ist zerstört. Wer heute in Nouméa im OP steht, weiß nicht, ob er morgen noch heil nach Hause kommt. Kein Wunder, dass die Bereitschaft zur Weiterarbeit gering ist.

Ein Weckruf für Frankreich?

Neukaledonien ist kein Einzelfall, sondern ein Beispiel für die generelle Verletzlichkeit von Überseegebieten. Weite Entfernungen, geringe medizinische Dichte, fragile Infrastrukturen – das alles wird in Krisenzeiten zum explosiven Cocktail. Die sozialen Spannungen auf dem Archipel haben nicht nur das gesellschaftliche Miteinander erschüttert, sondern auch das Vertrauen in staatliche Institutionen nachhaltig beschädigt.

Ein funktionierendes Gesundheitssystem ist das Rückgrat jeder Gesellschaft. Wenn es bricht, folgt oft der Rest. Die Lage in Neukaledonien ist nicht nur ein medizinisches Problem – sie ist ein politisches, ein soziales und letztlich ein menschliches Drama.

Der Mensch im Mittelpunkt – oder im Abseits?

Statt weiter auf technische Lösungen zu setzen, braucht es jetzt mutige und langfristige Strategien. Bessere Arbeitsbedingungen, gezielte Anreize für junge Ärztinnen und Pfleger, ein Sicherheitskonzept, das diesen Namen auch verdient – und ein echter Dialog mit der Bevölkerung. Nur so lässt sich das verlorene Vertrauen zurückgewinnen.

Es ist höchste Zeit für einen Neuanfang. Oder will Paris tatenlos zusehen, wie das medizinische Herz des Archipels langsam aufhört zu schlagen?

Von C. Hatty

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