In der Nacht, als viele noch schliefen, bebte in Nordafghanistan plötzlich der Boden. Was wie ein ferner Stoß in der Tiefe beginnt, entfaltet sich binnen Sekunden zu einer Naturkatastrophe mit schwerwiegenden Folgen: Ein Erdbeben der Stärke 6,3 traf am frühen Morgen des 3. November 2025 die Provinzen Balkh und Samangan mit voller Wucht. Das Epizentrum lag nahe Mazar-e Sharif – einem Ort, dessen Name nun erneut traurige Berühmtheit erlangt.
Mindestens 20 Menschen kamen ums Leben, über 300 wurden verletzt. Und das sind nur die bisherigen offiziellen Zahlen – oft nur die Spitze eines Eisbergs. Denn viele Bergdörfer sind unerreichbar. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit und die Kälte.
Trümmer, Tränen und tiefe Risse
Was in nüchternen Zahlen messbar scheint, hat menschliche Gesichter. In Mazar-e Sharif stürzten Häuser ein, Mauern zerbarsten, Dächer krachten in sich zusammen. Selbst die legendäre Blaue Moschee – jahrhundertealtes Symbol afghanischer Kultur – wurde beschädigt. Aufnahmen zeigen herabgestürzte Kuppelverzierungen, Risse in den Fassaden, Menschen, die betend durch die Trümmer irren.
In den ländlichen Regionen sieht es noch düsterer aus. Viele Häuser bestehen dort aus einfachen Lehmziegeln. Nun liegen ganze Ortschaften in Schutt und Asche. Und während internationale Medien berichten, beginnt für die Betroffenen ein langer, mühsamer Kampf ums Überleben.
Warum gerade hier? – Ein Blick ins Erdinnere
Afghanistan gehört zu den erdbebengefährdetsten Regionen der Welt. Der Grund liegt tief unter der Erde: Die indische Kontinentalplatte drückt mit enormer Kraft gegen die eurasische. Es ist ein geologischer Dauerclinch, der sich in regelmäßig wiederkehrenden Spannungsentladungen äußert – in Form von Beben wie diesem.
Das aktuelle Erdbeben war vergleichsweise „flach“, das heißt: Die Erschütterung kam aus nur etwa 28 Kilometern Tiefe. Genau das macht es so gefährlich. Denn je näher das Beben an der Oberfläche liegt, desto stärker die Schäden, desto höher das Risiko für die Menschen.
Zweite Katastrophe in wenigen Monaten
Bereits im August hatte ein Erdbeben der Stärke 6,0 in Ostafghanistan über 2.200 Menschenleben gefordert. Die Wunden davon sind kaum verheilt – da reißt das neue Beben sie brutal wieder auf. Vielerorts war der Wiederaufbau noch gar nicht richtig angelaufen. Nun steht erneut nichts mehr.
Und wieder sind es dieselben Herausforderungen, die eine effektive Hilfe erschweren: schwer zugängliche Gebirgsregionen, kaum befestigte Straßen, medizinische Einrichtungen am Rande der Belastung. Einige Orte können nur mit Hubschraubern erreicht werden – sofern das Wetter mitspielt. Und als wäre das nicht genug, beginnt in den nächsten Tagen der afghanische Winter.
Kälte, Hunger, Isolation – ein Wettlauf gegen die Zeit
In den Höhenlagen Nordafghanistans sinken die Temperaturen bereits jetzt nachts unter null. Familien, deren Häuser zerstört wurden, campieren im Freien – mit Decken, Zelten, dem Wenigen, was sie retten konnten. Die internationale Hilfe kommt in dem Land nur schleppend voran. Humanitäre Organisationen schlagen Alarm: Ohne schnelle Unterstützung drohen Erfrierungen, Krankheiten, Hungersnöte.
Doch Afghanistan steht längst nicht mehr im Zentrum der Weltpolitik. Nach dem internationalen Truppenabzug und der Machtübernahme durch die Taliban haben viele Länder ihre Hilfspräsenz reduziert. Gleichzeitig steigt der humanitäre Bedarf – nicht nur durch Naturkatastrophen, sondern auch durch anhaltende wirtschaftliche und politische Instabilität.
Frankreich, Europa – und unsere Rolle
Was hat das mit uns zu tun?
Mehr, als man auf den ersten Blick denkt. Denn Afghanistan bleibt – auch ohne militärische Präsenz – ein geopolitischer Brennpunkt. Die Instabilität in der Region wirkt wie ein Dominoeffekt, der Fluchtbewegungen, Terrorismus und wirtschaftliche Not begünstigt. Wenn Naturkatastrophen wie dieses Erdbeben die Lage weiter zuspitzen, hat das auch Auswirkungen auf internationale Sicherheitsinteressen.
Geschichten, die erzählt werden müssen
Die internationale Berichterstattung neigt dazu, nach den ersten Schlagzeilen weiterzuziehen. Doch gerade jetzt beginnt die eigentliche Geschichte: Die von Nothelfern, die unter Lebensgefahr Menschen aus Trümmern ziehen. Die von Ärzten, die ohne Strom, ohne Medikamente, ohne Pause arbeiten.
Diese Geschichten verdienen es, erzählt zu werden.
Und jetzt?
Die kommenden Tage werden entscheidend sein. Noch ist unklar, ob weitere Nachbeben folgen. Noch ist ungewiss, wie viele Dörfer von der Außenwelt abgeschnitten sind. Und noch ist offen, wie schnell und wirksam internationale Hilfe tatsächlich ankommt.
Aber eines ist sicher: Afghanistan braucht uns – wieder einmal.
Autor: Andreas M. B.
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