Man stelle sich vor, ein Land erklärt die Tiefseezone vor seiner Küste zum Tabu. Kein Bohren, kein Schürfen, keine industrielle Gier. Nur Forschung – aber bitte sanft. Und das Ganze für ein halbes Jahrhundert. Klingt wie Science-Fiction? Ist aber Realität. In der Südsee.
Am 29. April 2025 beschloss der Kongress des französischen Überseegebietes Nouvelle-Calédonie (Neukaledonien) ein Moratorium, das weltweit seinesgleichen sucht: Für 50 Jahre bleibt die Tiefsee im 1,3 Millionen Quadratkilometer großen maritimen Hoheitsgebiet des Archipels unangetastet. Eine Entscheidung, die nicht nur mutig ist, sondern auch ziemlich clever.
Wenn die Tiefe Schutz bekommt
Warum ausgerechnet jetzt? Und warum so lange?
Ganz einfach: Die Tiefsee ist eines der letzten nahezu unerforschten Ökosysteme der Erde. Dunkel, still, voller bizarrer Kreaturen und zerbrechlicher Strukturen – und unter massivem Druck. Nicht nur durch das immense Gewicht des Wassers, sondern auch durch die wachsende Begierde der Industrie nach Metallen wie Kobalt, Nickel oder Seltenen Erden. Diese Rohstoffe stecken in den Manganknollen und heißen Quellen der Tiefsee – ein Schatz für die Energiewende, aber ein Albtraum für die Ökosysteme.
Wer einmal gesehen hat, wie ein Tiefseebergbaugerät den Meeresboden aufreißt, versteht sofort: Dort unten wächst nichts nach. Jedenfalls nicht in Jahrzehnten.
Jérémie Katidjo Monnier, zuständiger Regierungsvertreter Neukaledoniens, bringt es auf den Punkt: „Unsere Kenntnisse über diese Ökosysteme sind begrenzt, ihre Resilienz ist schwach – und ihre Bedeutung für die globale CO₂-Speicherung ist enorm.“ Anders gesagt: Wer hier Schaden anrichtet, spielt mit dem Weltklima.
Politik mit Weitblick – oder doch Blockade?
Die Entscheidung fiel mit großer Mehrheit – aber nicht einstimmig. Während Umweltgruppen, indigene Vertreter und progressive Parteien wie UC-FLNKS oder Éveil océanien jubelten, reagierten wirtschaftsnahe Kräfte mit Skepsis.
„50 Jahre – das ist übertrieben“, monierten Vertreter der Loyalisten. Und Nicolas Metzdorf, Abgeordneter der Renaissance-Partei, sprach sogar von einem Widerspruch zur nationalen Nickelpolitik: „Wir fördern an Land und blockieren das Meer – das passt nicht zusammen.“
Doch genau hier liegt der Denkfehler.
Der Abbau an Land hat bereits gewaltige ökologische und soziale Spuren hinterlassen. Wälder wurden gerodet, Böden verseucht, indigene Rechte missachtet. Will man diesen Irrweg nun auf die Tiefsee übertragen – nur weil wir es technisch können?
Ein globales Signal
In einer Zeit, in der internationale Regeln für Tiefseebergbau in internationalen Gewässern noch verhandelt werden, setzt Neukaledonien ein markantes Zeichen. Während etwa die USA unter US-Präsident Trump einen Freifahrtschein für Tiefseebergbau ausstellten und Inselstaaten wie Nauru oder die Cookinseln erste Explorationsgenehmigungen vergaben, sagt der französische Archipel laut und deutlich: „Stopp!“
Man könnte fragen: Hat eine winzige Inselgruppe im Südpazifik überhaupt Einfluss auf den globalen Kurs?
Ja – und wie!
Denn dieses Moratorium ist mehr als ein juristischer Text. Es ist ein moralischer Kompass. Ein Aufruf zur Vorsicht – zur Demut. Und zur Anerkennung, dass die Ozeane keine endlose Ressourcenkiste sind, sondern lebendige Systeme mit eigener Würde.
Einzigartige Natur – und kulturelle Tiefe
Neukaledonien schützt nicht nur ein Meer, es schützt ein Kulturerbe. In der kanakischen Weltanschauung ist das Meer kein Objekt, sondern ein Verwandter. Ein Ahne. Eine Quelle der Identität.
In dieser Sichtweise liegt eine Weisheit, die der Westen lange verdrängt hat. Statt „beherrschen“ heißt es dort „bewahren“. Und vielleicht ist das genau die Haltung, die wir heute dringend brauchen.
Wusstest du, dass ein Drittel aller noch intakten Korallenriffe der Welt in diesem Gebiet liegt? Weltweit sind diese empfindlichen Ökosysteme durch Überfischung, Verschmutzung und Klimawandel massiv bedroht. Neukaledonien beherbergt eine der letzten Bastionen dieser Wunderwelten – quasi ein „Backup“ der Naturgeschichte.
Keine Forschungssperre – aber bitte mit Fingerspitzengefühl
Kritiker des Moratoriums behaupten gern, es stoppe auch die Wissenschaft. Das Gegenteil ist der Fall. Forschung bleibt erlaubt – aber sie muss nicht-invasiv sein. Das bedeutet: Keine Bohrungen, keine Entnahmen in großem Stil, kein Eingriff in das sensible Gleichgewicht. So kann man Daten sammeln, ohne gleich alles umzupflügen.
Eine Win-win-Situation: Erkenntnis ohne Zerstörung. Klingt vernünftig, oder?
Die Welt schaut hin
Dieses Moratorium ist ein Experiment mit Signalwirkung. Andere Gebiete, wie Französisch-Polynesien, haben sich zwar ebenfalls gegen den Tiefseeabbau ausgesprochen – aber ohne klare rechtliche Verankerung und ohne zeitliche Festlegung. Neukaledonien geht weiter. Und stellt eine der grundlegendsten Fragen unserer Zeit:
In einer Ära, in der Kipppunkte überschritten, Gletscher geschmolzen und Ökosysteme kollabieren, brauchen wir genau solche Weichenstellungen.
Hoffnung unter der Oberfläche
Manchmal sind es die kleinen, abgelegenen Orte, die den Takt für den Wandel vorgeben. Orte, die scheinbar abseits stehen – und doch Herzstücke unserer Zukunft sind.
Neukaledonien zeigt, dass eine Gesellschaft mutig sein kann. Dass Vorsorge kein Verzicht ist, sondern Weitblick. Und dass ökologische Verantwortung mehr ist als ein Lippenbekenntnis – nämlich echte Politik.
Die Entscheidung mag juristisch angreifbar sein, wie manche Kritiker behaupten. Aber sie ist moralisch unangreifbar.
Und vielleicht, nur vielleicht, werden wir eines Tages sagen: Damals, 2025, als alles noch möglich war – da begann es. Unter Wasser. Mit einem Tabu.
Von Andreas M. Brucker
Quellen:
Abonniere einfach den Newsletter unserer Chefredaktion!