Kanada steht vor einer vorgezogenen Parlamentswahl. Premierminister Mark Carney, der erst vor wenigen Wochen das Amt von Justin Trudeau übernommen hat, ließ am 23. März das Parlament auflösen und rief Neuwahlen für den 28. April aus. Der Schritt kommt zu einem Zeitpunkt wachsender Spannungen mit den Vereinigten Staaten, deren Präsident Donald Trump nicht nur protektionistische Maßnahmen gegen Kanada ergriffen, sondern in öffentlichen Äußerungen mehrfach eine „Angliederung“ Kanadas an die USA ins Spiel gebracht hat. Die anstehende Wahl wird dadurch zur Abstimmung über Kanadas Selbstverständnis als souveräner Staat.
Ein Banker wird Premier
Carney, der sich über Jahre hinweg in der Finanzwelt einen Namen machte – zunächst als Gouverneur der Bank of Canada, später als Chef der Bank of England – gilt als international angesehener Technokrat. Seine Ernennung zum Parteichef der Liberalen und zum Premierminister markierte eine Zäsur: Er ist der erste nicht-parlamentarisch gewählte Regierungschef Kanadas seit Jahrzehnten und soll die angeschlagene Partei stabilisieren. Seine zentrale Botschaft ist klar: Kanada brauche in Zeiten externer Bedrohungen eine ruhige Hand, wirtschaftliche Expertise und die klare Verteidigung seiner Unabhängigkeit.
Trump eskaliert den Ton
Inmitten dieser innenpolitischen Neuordnung kommen aus Washington unverkennbare Drohungen. Präsident Trump hat eine Serie neuer Zölle auf kanadische Exporte verhängt, insbesondere auf Holz, Stahl und landwirtschaftliche Produkte. Die protektionistischen Maßnahmen fügen sich in ein Muster wiederholter diplomatischer Provokationen. Trump spricht in Wahlkampfreden offen davon, Kanada sei wirtschaftlich „überreif“ für eine Integration in die USA, es sei „unlogisch“, dass ein so ressourcenreiches Land nicht Teil des amerikanischen Binnenmarktes sei.
Was zunächst wie rhetorische Übertreibung erscheinen mag, hat inzwischen strategische Tiefe gewonnen. Berater des Weißen Hauses sprechen von einem „ökonomischen Druckinstrumentarium“, mit dem man Kanada zu politischen Konzessionen bewegen wolle. Die kanadische Öffentlichkeit reagiert zunehmend alarmiert.
Eine Wahl der Selbstbehauptung
In diesem Klima verkündete Carney die Auflösung des Parlaments und begründete den Schritt mit der Notwendigkeit eines stabilen, demokratisch legitimierten Mandats. Nur ein klares Votum der Wähler, so seine Botschaft, könne Kanada in die Lage versetzen, den ökonomischen Erpressungsversuchen aus Washington standzuhalten. Gleichzeitig solle die Wahl einen nationalen Schulterschluss ermöglichen – über Parteigrenzen hinweg.
Der Wahlkampf wird dementsprechend nicht nur wirtschafts-, sondern auch identitätspolitisch geführt. Die liberale Partei positioniert sich als Bollwerk gegen äußeren Druck, während die konservative Opposition unter Pierre Poilievre bemüht ist, nicht in den Sog anti-amerikanischer Ressentiments gezogen zu werden. Poilievre hat sich bislang ambivalent zu Trumps Aussagen geäußert und ruft nun zur „Versachlichung“ der Debatte auf – ein Kurs, der ihm Kritik von nationalistisch gestimmten Wählern wie auch von moderaten Kräften einbringt.
Stimmung im Land
Meinungsumfragen zeigen, dass eine breite Mehrheit der Kanadier die Angriffe aus Washington als inakzeptabel empfindet. Gleichzeitig wächst das Vertrauen in Carney als Krisenmanager. Seine Expertise in internationalen Wirtschaftsfragen verschafft ihm Glaubwürdigkeit, auch wenn ihm die Erfahrung im politischen Alltag fehlt. Besonders in urbanen Zentren wie Toronto, Vancouver und Montreal erfährt er Zuspruch – weniger aus Parteitreue, sondern aus Sorge vor einem möglichen Kontrollverlust über die nationale Souveränität.
Zudem spielen regionale Interessen eine Rolle: In Quebec wird Trumps Rhetorik als besonders bedrohlich wahrgenommen, da die frankophone Provinz historisch besonders auf ihre kulturelle Eigenständigkeit bedacht ist. Auch in Alberta und Saskatchewan, wo wirtschaftliche Abhängigkeiten vom US-Markt besonders ausgeprägt sind, wächst das Unbehagen über die Unvorhersehbarkeit der amerikanischen Politik.
Ökonomische und außenpolitische Folgen
Die Ankündigung der Neuwahl fiel in eine Phase wirtschaftlicher Unruhe. Die kanadische Börse reagierte zunächst mit Verlusten, der Wechselkurs des kanadischen Dollar gab gegenüber dem US-Dollar nach. Gleichzeitig bemüht sich Ottawa um eine Diversifizierung der Handelspartner. Gespräche mit der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich sollen beschleunigt werden, auch mit China wird über sektorale Abkommen verhandelt – trotz geopolitischer Vorbehalte.
Auf diplomatischer Ebene zeigen sich viele der traditionellen Verbündeten Kanadas irritiert über den Ton aus Washington. Innerhalb der G7 wird zunehmend darüber diskutiert, ob und wie man auf Trumps außenwirtschaftliche Alleingänge reagieren kann. Kanadas Versuch, sich als verlässlicher Partner in multilateralen Bündnissen zu positionieren, könnte im Fall eines klaren Wahlsiegs Carneys an Gewicht gewinnen.
Jenseits der Wahl
Unabhängig vom Wahlausgang steht Kanada vor einer Phase der Selbstvergewisserung. Das Verhältnis zu den USA – historisch eng, wirtschaftlich verflochten, kulturell vielfältig – wird sich nicht von heute auf morgen neu definieren lassen. Doch die Grenze zwischen wirtschaftlichem Druck und politischer Einmischung ist überschritten. Das Land steht vor der Herausforderung, seine strategische Autonomie zu wahren, ohne in Isolation zu verfallen.
Die Wahl am 28. April wird mehr als eine innenpolitische Weichenstellung sein. Sie ist eine Antwort auf die Frage, wie sich eine mittelgroße Demokratie in einer zunehmend hegemonial geprägten Weltordnung behaupten kann.
P.T.
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