Tag & Nacht




In der beschaulichen Gemeinde Questembert im südlichen Bretagne-Departement Morbihan ziehen zwei besondere Kollegen im Auftrag der Ortsverwaltung täglich ihre Runden: Havane und Gladez, zwei kräftige Kaltblutpferde. Seit über fünfzehn Jahren unterstützen sie die städtischen Dienste beim Müllsammeln, der Pflege von Grünanlagen und sogar beim Schultransport.

Doch was einst als Vorzeigeprojekt für Umweltfreundlichkeit und ländliche Authentizität galt, steht nun am Pranger. Tierschützer laufen Sturm – und werfen der Gemeinde vor, archaische und unmenschliche Praktiken zu dulden.

Pferdestärken gegen CO₂-Ausstoß

In Zeiten, in denen jede eingesparte Tonne CO₂ gefeiert wird, wirken die muskulösen Pferde von Questembert wie gallische Rebellen gegen die Motorisierung. Ohne Abgase, ohne Lärm, dafür mit einer ordentlichen Portion Charme traben sie durch die Straßen. Ihre Arbeitskraft ersetzt nicht nur Fahrzeuge, sondern schafft Nähe – zwischen Mensch und Tier, Alt und Jung, Stadt und Natur.

Bürgermeister Boris Lemaire betont immer wieder, wie gut die Tiere gepflegt werden. Ihre Stallungen seien artgerecht, ihr Arbeitsrhythmus abgestimmt auf ihr Wohlbefinden. Zudem helfe ihre Nutzung dabei, die vom Aussterben bedrohte bretonische Pferderasse zu erhalten.


„Archaisch und ausbeuterisch“ – Antispeziesisten schlagen Alarm

Seit Mitte April hat sich jedoch ein Sturm der Kritik zusammengebraut. Serge Buchet, Lokalpolitiker und Mitglied der Bewegung REV (Révolution écologique pour le vivant), hat eine Petition gestartet. Sein Vorwurf: Die Tiere würden wie Sklaven behandelt. Fast 25.000 Menschen haben sich seinem Appell angeschlossen.

In der Petition heißt es, die Pferde müssten schwere Lasten ziehen, teils auf heißem Asphalt und unter lautem Straßenlärm. Solche Bedingungen seien einer modernen, ethisch verantwortungsvollen Gesellschaft nicht würdig. Tierliebe bedeute heute mehr, als nur Futter und Unterstand – sie bedeute, Tiere nicht mehr für menschliche Zwecke auszunutzen.


Tradition trifft auf Widerstand

Die Kritik hat auch eine Gegenbewegung hervorgerufen. Über 3.500 Unterstützer haben eine Gegenpetition unterzeichnet, in der sie für den Erhalt dieser „grünen“ Tradition plädieren. Ihr Argument: Die Pferde seien ein Symbol für umweltbewusstes und entschleunigtes Leben – Werte, die gerade heute dringend gebraucht werden.

In ihren Augen verbindet die Initiative in Questembert Ökologie mit Geschichte, Nachhaltigkeit mit sozialem Miteinander. Sie fragen: Wenn nicht solche Projekte – was dann?


Der tieferliegende Konflikt

Hinter dem Streit verbirgt sich ein größerer gesellschaftlicher Diskurs. Wie gehen wir mit unseren tierischen Mitbewohnern um? Wo endet Tradition und wo beginnt Ausbeutung? Und – wer darf darüber entscheiden?

Die Diskussion offenbart eine wachsende Sensibilität für das Thema Tierrechte. Der Begriff „Antispeziesismus“ – also der Kampf gegen die Diskriminierung von Tieren – ist längst nicht mehr nur akademischen Zirkeln vorbehalten. Er findet seinen Weg in politische Gremien, auf die Straße und in die Herzen vieler junger Menschen.

Gleichzeitig stellt sich die Frage: Können Tiere wirklich freiwillig für uns arbeiten? Oder projizieren wir dabei nicht auch menschliche Werte auf andere Lebewesen?


Havane und Gladez – Symbole einer Zeitenwende?

Trotz aller Debatten ziehen Havane und Gladez weiterhin gelassen ihre Bahnen. Sie wirken dabei fast wie Mahnmale in einem gesellschaftlichen Umbruch – irgendwo zwischen Fortschritt und Vergangenheit, zwischen Bewahrung und Neuanfang.

Vielleicht ist gerade das ihre größte Stärke: Dass sie Fragen aufwerfen. Dass sie uns dazu bringen, innezuhalten. Und dass sie uns – ganz ohne Motor – dazu bewegen, über unseren Umgang mit Natur, Umwelt und Tieren nachzudenken.

Was bleibt also von Questembert? Eine kleine Gemeinde mit großen Fragen. Und zwei Pferden, die viel mehr bewegen als nur einen Müllwagen.

Autor: Daniel Ivers

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