Tag & Nacht

Die parlamentarische Demokratie in Europa steht auf dem Prüfstand. In Frankreich erschüttern immer wieder Probleme bei der Regierungsbildung das politische System, während Deutschland das 75-jährige Bestehen von Bundestag und Bundesrat feiert. Wie steht es also um die beiden politischen Systeme, und was können sie voneinander lernen?

Frankreich: Eine Demokratie im Dauerkrampf?

In Frankreich hängt die Regierungsbildung seit Jahren oft am seidenen Faden. Zwar gilt das Land als eine der ältesten Demokratien Europas, doch das politische System scheint zunehmend unter Druck zu geraten. Das semi-präsidentielle System der Fünften Republik, 1958 unter Charles de Gaulle ins Leben gerufen, ist durch einen starken Präsidenten geprägt, der weitreichende Machtbefugnisse hat. Im Gegensatz dazu tritt das Parlament, bestehend aus Nationalversammlung und Senat, oft in den Hintergrund.

Ein zentrales Problem der französischen Politik ist die zunehmende Fragmentierung der Parteienlandschaft. Wo früher das Duell zwischen den etablierten Parteien – Sozialisten und Konservativen – dominierte, haben heute populistische und extremistische Kräfte an Boden gewonnen. Insbesondere der Aufstieg von Marine Le Pen und der Partei Rassemblement National hat das politische Gefüge stark verändert. Die traditionellen Volksparteien erodieren und das erschwert stabile Mehrheiten im Parlament. Kein Wunder also, dass die Regierungsbildung immer wieder zur Geduldsprobe wird.

Die sogenannten „Kohabitationen“, bei denen Präsident und Premierminister unterschiedlichen politischen Lagern angehören, sind in Frankreich keine Seltenheit mehr. Das Resultat: eine politische Lähmung, in der Reformen schwer durchzusetzen sind und die Politik oft nur auf den kleinsten gemeinsamen Nenner reduziert wird. Ist das eine nachhaltige Demokratie?

Deutschland: Stabilität durch föderale Strukturen

Deutschland hingegen feiert den 75. Geburtstag zweier tragender Säulen seiner Demokratie – des Bundestages und des Bundesrates. Beide Institutionen verkörpern das Herzstück der deutschen parlamentarischen Demokratie und stehen für eine bemerkenswerte Kontinuität. Der Föderalismus, der im Grundgesetz verankert wurde, hat maßgeblich dazu beigetragen, dass die deutsche Politik relativ stabil geblieben ist, selbst in Zeiten politischer Turbulenzen.

Natürlich gibt es auch in Deutschland politische Umbrüche – man denke nur an den Aufstieg der Grünen in den 80er und 90er Jahren oder der AfD heute. Doch der Bundestag, als das direkt gewählte Parlament, spiegelt die politische Vielfalt wider, ohne dabei die Stabilität zu gefährden. Selbst in Zeiten von Koalitionsverhandlungen, die sich manchmal über Wochen hinziehen, ist das politische System nicht in Gefahr.

Der Bundesrat, der die Interessen der Bundesländer vertritt, fungiert als wichtiges Kontrollorgan. Durch ihn wird gewährleistet, dass die Bundesländer bei wichtigen Gesetzgebungen ein Mitspracherecht haben – eine Mechanik, die dem politischen System eine gewisse Balance und Ausgewogenheit verleiht. Wenn man einen Blick über den Rhein nach Frankreich wirft, könnte man sich fragen: Wäre ein ähnliches System dort eine Lösung, um die Zersplitterung und politischen Blockaden zu vermeiden?

Wo liegen die Unterschiede?

Ein entscheidender Unterschied zwischen den beiden Systemen ist die Machtverteilung. Während in Frankreich der Präsident eine fast monarchische Stellung innehat, setzt Deutschland auf eine Balance der Kräfte. Der Bundespräsident, der vor allem repräsentative Aufgaben wahrnimmt, steht nicht im Zentrum der Macht. Stattdessen liegt die Hauptverantwortung bei der Bundesregierung, die aus dem Bundestag hervorgeht und dem Parlament gegenüber rechenschaftspflichtig ist.

Dieser Unterschied hat weitreichende Folgen. In Frankreich ist die Macht stark personalisiert – Emmanuel Macron etwa hat die Fünfte Republik mit seiner Partei La République en Marche (heute „Renaissance“) förmlich im Alleingang dominiert. Doch dieser Ansatz stößt an seine Grenzen. Ohne stabile Mehrheiten im Parlament bleibt auch dem mächtigsten Präsidenten wenig Raum für Reformen. Die jüngsten Proteste gegen Rentenreformen und die schwierige Regierungsbildung nach den Parlamentswahlen zeigen, dass das System anfällig für Blockaden ist.

Deutschland hingegen profitiert von seinem konsensorientierten System. Koalitionen sind die Regel, und oft müssen Kompromisse gefunden werden – eine Praxis, die sicherstellt, dass auch Minderheiten gehört werden. Dieses System verhindert politische Extreme, kann aber auch als schwerfällig empfunden werden. Doch gerade diese Schwerfälligkeit – das permanente Ringen um Kompromisse – hat Deutschland über Jahrzehnte hinweg Stabilität und Wohlstand gesichert.

Was kann Frankreich von Deutschland lernen?

Die anhaltenden Probleme bei der Regierungsbildung in Frankreich werfen die Frage auf: Sollte Frankreich seine Verfassung überdenken? Ein föderales System wie in Deutschland könnte eine Antwort auf die zunehmende politische Fragmentierung sein. Die Interessen regionaler Akteure wären besser repräsentiert, und der Zentralismus, der Frankreich seit jeher prägt, könnte entschärft werden.

Ein anderes Problem ist die starke Personalisierung der Politik. Frankreich setzt auf einen Präsidenten, der als „starker Mann“ die Geschicke des Landes lenken soll – ein Modell, das in einer immer komplexer werdenden Welt zunehmend an seine Grenzen stößt. In Deutschland ist die Macht auf mehrere Schultern verteilt: Der Kanzler steht zwar an der Spitze, muss sich aber stets im Bundestag Mehrheiten sichern, und die Länder im Bundesrat behalten ein wachsames Auge auf die Bundespolitik. Wäre das nicht auch eine denkbare Lösung für Frankreich?

Ein Blick in die Zukunft

Frankreich und Deutschland stehen vor ähnlichen Herausforderungen: die zunehmende Polarisierung der Gesellschaft, der Aufstieg populistischer Bewegungen und eine immer komplexer werdende Weltpolitik. Doch während Frankreich immer wieder von innenpolitischen Krisen geplagt wird, bleibt Deutschland – trotz aller Probleme – ein stabiler Anker in Europa.

Das soll nicht heißen, dass Deutschland keine Schwachstellen hat. Gerade die zunehmende Unzufriedenheit mit der derzeit regierenden Koalition und die Schwierigkeit, Reformen schnell durchzusetzen, zeigt, dass auch hier das politische System an seine Grenzen stoßen kann. Doch im Vergleich zu Frankreich zeigt sich, dass ein System, das auf Konsens, föderale Strukturen und Machtverteilung setzt, stabiler ist und weniger anfällig für kurzfristige politische Krisen.

Was ist also die Lehre aus 75 Jahren Bundestag und Bundesrat? Stabilität durch Balance, Vielfalt und Föderalismus – eine Lektion, die auch Frankreich gut tun könnte.


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