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In kaum einem anderen westeuropäischen Land reihen sich so viele Korruptions- und Finanzskandale aneinander wie in Frankreich – und doch bleibt die politische Karriere der Betroffenen oft erstaunlich unbeschadet. Von Jacques Chirac über Nicolas Sarkozy bis hin zu Marine Le Pen: Verurteilungen vor Gericht haben nicht zwangsläufig zu einem Ende ihrer politischen Laufbahn geführt. Diese Resilienz wirft die Frage auf, ob Frankreich eine demokratische Ausnahme bildet – oder ob hier ein tieferes gesellschaftliches Phänomen sichtbar wird.


Von Chirac bis Le Pen: eine Chronik der Skandale

Die Liste der Fälle ist lang und prominent besetzt. Jacques Chirac, Präsident von 1995 bis 2007, wurde 2011 zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt – wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder während seiner Zeit als Bürgermeister von Paris. Nicolas Sarkozy, sein Nachfolger als Präsident, erhielt 2021 wegen Korruption und Einflussnahme eine dreijährige Strafe, ein Jahr davon tatsächlich zu verbüßen – allerdings unter elektronischer Überwachung im Hausarrest.

Auch François Fillon, Premierminister unter Nicolas Sarkozy, wurde 2022 im Zusammenhang mit Scheinbeschäftigungen seiner Ehefrau zu vier Jahren Haft, davon ein Jahr unbedingt, verurteilt. Und im März 2025 wurde Marine Le Pen, Vorsitzende des Rassemblement National, zu vier Jahren Gefängnis, davon zwei Jahre unbedingt, sowie fünf Jahren Unwählbarkeit verurteilt. Der Vorwurf: Veruntreuung europäischer Parlamentsgelder.

Trotz solcher Urteile sind diese Persönlichkeiten im öffentlichen Raum präsent geblieben. Sarkozy tritt noch immer bei Veranstaltungen seiner Partei auf, Fillon pflegt ein internationales Netzwerk, und Le Pen führt ihre Bewegung weiter an – die Verurteilung hat ihrer Popularität bislang kaum geschadet.


Ein desillusioniertes Publikum

Die relative Gelassenheit, mit der große Teile der französischen Öffentlichkeit auf diese Skandale reagieren, erstaunt. Meinungsumfragen dokumentieren zwar seit Jahren ein tiefes Misstrauen gegenüber der politischen Klasse. Doch dieses Misstrauen übersetzt sich nicht in konsequente Wahlniederlagen für die Betroffenen. Sarkozy bleibt für viele Konservative eine Referenzfigur; Le Pens Partei erreicht weiterhin zweistellige Ergebnisse bei Wahlen und hat gute Chancen, 2027 die Präsidentschaft ernsthaft anzugreifen.

Politikwissenschaftler verweisen auf eine Art „Abnutzungseffekt“. Da Skandale seit den 1980er-Jahren fester Bestandteil des politischen Alltags sind, hat sich ein gewisser Zynismus durchgesetzt: Viele Wähler nehmen Korruption als systemimmanent wahr und unterscheiden kaum mehr zwischen Integrität und Verfehlung. Eine weitere Erklärung liegt in der verbreiteten Skepsis gegenüber der Justiz. Verfahren ziehen sich oft über viele Jahre hin, sodass Urteile mit erheblicher zeitlicher Distanz zu den eigentlichen Vorwürfen fallen. Die politische Brisanz ist dann vielfach verpufft.


Eine Justiz unter Verdacht

Das französische Justizsystem trägt selbst zum Vertrauensverlust bei. Die Cour de justice de la République, zuständig für Regierungsmitglieder, gilt als zu nachsichtig, da dort auch Parlamentarier über die Schuld von Ministern urteilen. Mehrfach wurde sie als „Gericht der Politiker für Politiker“ kritisiert.

Darüber hinaus nährt die lange Dauer von Verfahren den Verdacht einer politisch motivierten Justiz. So beklagte Sarkozy wiederholt, Opfer einer „judiciarisation de la politique“ zu sein, während Marine Le Pen von „politischen Prozessen“ sprach. Auch wenn unabhängige Gutachter diese Vorwürfe zurückweisen, bleibt die Wahrnehmung einer selektiven oder parteiischen Justiz in der Öffentlichkeit bestehen.

Ein Vergleich mit anderen Demokratien verdeutlicht die Besonderheit: In Deutschland oder Großbritannien bedeutet schon der Verdacht eines schwerwiegenden Fehlverhaltens oft das sofortige Ende einer politischen Karriere. In Frankreich hingegen haben selbst rechtskräftige Urteile nicht automatisch dieselbe Konsequenz.


Reformforderungen und institutionelle Blockaden

Seit Jahren wird über Reformen diskutiert, um die Glaubwürdigkeit der Institutionen zu stärken. Gefordert werden unter anderem die Abschaffung der Cour de justice de la République, eine automatisches verbot der Bekleidung öffentlicher Ämter bei schweren Verurteilungen sowie mehr Ressourcen für die Finanzstaatsanwaltschaft.

Einige Maßnahmen sind bereits umgesetzt worden: Das 2013 verabschiedete Gesetz zur Transparenz des öffentlichen Lebens verpflichtet Minister:innen zur Offenlegung ihres Vermögens. Doch die Wirksamkeit bleibt begrenzt, solange Strafurteile keine klaren politischen Folgen nach sich ziehen.

Die Debatte berührt ein Kernproblem der französischen Demokratie: das Spannungsverhältnis zwischen einem auf das Präsidentenamt zugeschnittenen System und dem Anspruch gleicher Rechtsanwendung. In einem Staat, der sich als „République exemplaire“ versteht, wirkt die wiederkehrende Diskrepanz zwischen Rechtsprechung und politischer Realität besonders scharf.


Die politische Kultur Frankreichs offenbart hier eine eigentümliche Widersprüchlichkeit: Einerseits ist das Land stolz auf seine revolutionäre Tradition von Rechtsgleichheit und Transparenz. Andererseits etabliert sich faktisch eine Toleranz gegenüber Verfehlungen der Eliten. Solange juristische Sanktionen nicht mit klaren politischen Konsequenzen verbunden sind, bleibt die Gefahr bestehen, dass sich das Misstrauen der Bürger weiter vertieft – und damit die Attraktivität populistischer Alternativen wächst.

Autor: Andreas M. Brucker

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