Tag & Nacht




Eine Briefmarke für 1,52 Euro? Klingt nach einem Zahlendreher, ist aber bald Realität. Wer ab Anfang 2026 einen einfachen Brief in Frankreich verschicken will, zahlt dann 13 Cent mehr als bisher – für das sogenannte „timbre vert“, den umweltfreundlichen Standardtarif der französischen Post. Und mit dieser Preiserhöhung scheint endgültig eine Grenze überschritten: nicht nur finanziell, sondern auch symbolisch.

„Man könnte meinen, jemand wolle das Briefeschreiben bewusst abschaffen“, sagt Arnaud de Blauwe, Chefredakteur des Verbrauchermagazins Que choisir. Seine Wortwahl ist drastisch – aber sie trifft einen Nerv.

Denn die Erhöhungen kommen nicht plötzlich. Sie kommen regelmäßig. Jahr für Jahr, still und unaufhaltsam. Wer früher seine Briefe für ein paar Francs – oder später für unter einem Euro – verschickte, fühlt sich mittlerweile wie in einer anderen Welt. 1,52 Euro – das ist mehr als der Preis eines Espressos an der Theke in Paris. Und das für ein kleines Stück Papier mit Kleberückseite.

Das Ende eines Alltagsrituals?

Briefe schreiben – das war einmal ein selbstverständlicher Teil des Alltags. Liebesbriefe, Glückwünsche, amtliche Schreiben, der berüchtigte „blaue Brief“. Heute? E-Mail, Messenger, SMS, Push-Benachrichtigungen. Schnell, bequem – und kostenlos.

Natürlich hat das seine Vorteile. Aber es frisst zugleich einen ganzen Kulturraum. Und für die Post wird der klassische Brief immer mehr zum Problem. „La Poste traîne le courrier comme un boulet“, formuliert de Blauwe treffend – wie eine lästige Last, ein Klotz am Bein. Die Zahl der verschickten Briefe schrumpft, die Einnahmen sinken. Und um das aufzufangen, steigen die Preise. Ein Teufelskreis.

Von der Pflicht zur Belastung

Dabei war der Brieftransport einst Kernaufgabe der Post. Eine öffentliche Dienstleistung. Ein Grundpfeiler staatlicher Infrastruktur. Doch diese Mission wankt. Was passiert mit einem Service, der kaum noch genutzt – und immer teurer wird?

De Blauwe stellt die Frage, die sich viele nicht zu denken trauen: „Vielleicht wird man sich eines Tages fragen, ob man überhaupt noch Briefmarken verkaufen sollte.“ Das klingt radikal. Aber ist es das wirklich?

Wenn ein Produkt zur reinen Kostenfalle mutiert, wird seine Existenz infrage gestellt – erst leise, dann laut. Und die Briefmarke? Könnte irgendwann nur noch ein nostalgisches Sammlerstück sein.

Ein schleichender Rückzug

Dabei geschieht dieser Rückzug nicht über Nacht. Er ist schleichend, fast unsichtbar. Und gerade deshalb so wirksam. Immer weniger Postämter, immer weniger Briefkästen, immer längere Laufzeiten. Und jetzt: Preise, die viele schlicht nicht mehr zahlen wollen oder können.

Wer heute in ländlichen Regionen wohnt, kennt das Dilemma. Der nächste Postschalter ist oft kilometerweit entfernt. Die Digitalisierung hilft – aber nur denen, die digital angebunden sind. Ältere Menschen, Menschen ohne Internetzugang oder mit eingeschränkter Mobilität bleiben zurück. Der Brief war einmal ein Instrument der Teilhabe – jetzt wird er zum Luxusgut.

Die Erhöhung auf 1,52 Euro wirkt wie eine weitere Schraube im System. Nicht dramatisch für sich genommen – aber in der Summe bezeichnend. Und sie wirft eine grundsätzliche Frage auf: Wie viel ist uns direkte, physische Kommunikation noch wert?

Ein handgeschriebener Brief ist mehr als nur Informationstransfer. Er ist persönlich, konkret, verbindlich. Er braucht Zeit – und vermittelt Wertschätzung. In einer Welt des Sofort-und-Weiter, des Wisch-und-weg, ist das eine wohltuende Ausnahme.

Aber wie viel darf diese Nähe kosten? Wer für einen schlichten Gruß fast anderthalb Euro zahlen soll, überlegt sich das zweimal. Und das trifft ausgerechnet die, die ihre Worte nicht digital verschicken können oder wollen.

Zwischen Markt und Mission

Natürlich: Die französische Post ist längst kein reiner Staatsbetrieb mehr. Sie wirtschaftet marktorientiert – wie viele ihrer europäischen Pendants. Das heißt: Profitabilität zählt. Und Briefe sind schlicht kein lukratives Geschäft mehr.

Aber eine öffentliche Dienstleistung lässt sich nicht nur nach betriebswirtschaftlicher Logik führen. Es geht auch um gesellschaftliche Verantwortung. Um Gleichheit. Um Zugang. Wer nur noch auf Effizienz schielt, riskiert, dass ganze Bevölkerungsgruppen den Anschluss verlieren.

Und genau das geschieht gerade – langsam, aber spürbar.

Die leise Demontage der Briefkultur

Die Briefmarke stirbt nicht an einem großen Skandal. Sie stirbt an Routine. An Gewöhnung. An kleinen, regelmäßigen Preisschritten, die kaum Protest hervorrufen, aber Wirkung zeigen. Ein sanftes Vergessen. Ein Verschwinden durch Preisgestaltung.

Dabei war sie einmal ein Symbol für Verbindlichkeit – und für Nähe über Distanz. Heute ist sie auf dem besten Weg, zum Relikt zu werden. Die Preiserhöhung auf 1,52 Euro ist da nur das sichtbarste Zeichen.

Aber vielleicht wird man sich eines Tages nicht nur fragen, ob es Briefmarken noch gibt. Sondern auch: Was verloren ging, als sie verschwanden.

Autor: C.H.

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