Der 10. Mai ist kein gewöhnlicher Kalendertag – er wirkt wie ein Brennglas, durch das man einige der einflussreichsten historischen Momente betrachten kann. In Frankreich, aber auch weltweit, wurde an diesem Datum Politik gemacht, gekämpft, erinnert – und Geschichte geschrieben.
Fangen wir mit einem Ereignis an, das beinahe einen Dominoeffekt auf die europäische Geschichte hatte.
1774 – Der Tod Ludwigs XV. und der Anfang vom Ende der Monarchie
Am 10. Mai 1774 starb Ludwig XV. nach 59 Jahren auf dem Thron – das war kein bloßer Herrscherwechsel. Denn mit seinem Tod begann für Frankreich eine Phase, die alles auf den Kopf stellte: Sein Enkel Ludwig XVI. bestieg den Thron – ein junger Mann, unbeholfen im politischen Spiel, aber mit dem festen Willen zu reformieren. Tragischerweise sollte genau dieser Wille, gepaart mit Naivität, bald in einer Katastrophe enden.
Was folgte? Wirtschaftliche Misere, soziale Ungleichheit – und die Französische Revolution. Ludwig XVI. verlor am Ende nicht nur seinen Thron, sondern auch seinen Kopf. Ein König, der an einem 10. Mai ins Amt kam – und damit ungewollt das Ende einer Epoche einläutete. Ironie des Schicksals?
1796 – Napoleons Stern geht bei Lodi auf
Ein anderes Frankreich, ein anderer Mann: Napoleon Bonaparte. Am 10. Mai 1796 errang er in Norditalien einen seiner ersten großen militärischen Triumphe – die Schlacht von Lodi. Was viele nicht wissen: Dieser Sieg war nicht einfach ein taktischer Erfolg, sondern ein psychologischer Wendepunkt. Napoleon selbst bezeichnete diesen Tag später als den Moment, an dem er erstmals den Glauben gewann, „zur Größe geboren“ zu sein.
Mit Lodi beginnt die Ära Napoleons – und damit ein Kapitel, das ganz Europa umkrempelt. Die Code Civil, das Ende des Heiligen Römischen Reichs, neue Grenzziehungen: All das wurzelt, zumindest zum Teil, in jenem Mai-Sieg.
1871 – Der Frieden von Frankfurt: Frankreich verliert mehr als nur Land
- Mai 1871: Nach einem verlustreichen Krieg zwischen Frankreich und dem jungen Deutschen Reich wird der Friedensvertrag von Frankfurt unterzeichnet. Frankreich muss Elsass und Lothringen abtreten, eine bittere Pille für die Grande Nation. Die Revanche-Gedanken, die sich aus dieser Demütigung speisten, lebten über Generationen weiter und prägten nicht zuletzt das politische Klima vor dem Ersten Weltkrieg.
Ein Vertrag also, der mehr entzündete, als er löschte – so viel zum Thema „Friedensschluss“.
1933 – Bücher brennen: Die Schattenseite deutscher Geschichte
Dieser 10. Mai ging auf traurige Weise in die Geschichte ein: In Berlin und anderen Städten Deutschlands wurden Bücher verbrannt. Werke von Brecht, Freud, Heine, Marx – ganze Bibliotheken gingen in Flammen auf. Wer sich die Bilder dieser inszenierten Zerstörung anschaut, spürt einen Kloß im Hals.
Es war ein Vorbote dessen, was folgte: Zensur, Verfolgung, Vernichtung. Und es zeigt, wie gefährlich eine Ideologie wird, wenn sie Kultur als Feind betrachtet. Noch heute erinnern Mahnmale an diesen Tag – und daran, wie zerbrechlich geistige Freiheit sein kann.
1940 – Frankreich im Schock: Der deutsche Angriff beginnt
Am 10. Mai 1940 begann der deutsche Westfeldzug. Binnen weniger Tage durchbrach die Wehrmacht die französischen Verteidigungslinien – der Maginot-Linie zum Trotz. Für Frankreich war es ein Schockmoment, der das Trauma des Ersten Weltkriegs wieder aufriss.
In Paris setzte eine Fluchtwelle ein, das politische System geriet ins Wanken, und nur Wochen später marschierten deutsche Truppen durch die Champs-Élysées. Ein Tag, an dem sich die Welt erneut in eine düstere Richtung bewegte.
1968 – Die Nacht der Barrikaden: Studenten gegen den Staat
In der Nacht vom 10. auf den 11. Mai 1968 brannten in Paris nicht Bücher, sondern Barrikaden. Im Quartier Latin errichteten Studenten Dutzende davon – ein Aufstand gegen ein verkrustetes System, gegen Autoritäten, gegen die Bevormundung der Jugend. Die Polizei reagierte brutal, es kam zu hunderten Verletzten. Doch diese Nacht entzündete ein Flächenfeuer, das ganz Frankreich erfasste – Generalstreiks, Fabrikbesetzungen, politische Paralyse.
Die „Nacht der Barrikaden“ wurde zum Sinnbild des Pariser Mai. Und sie hallt bis heute nach – nicht nur in Frankreich. Wie viele heutige soziale Bewegungen greifen auf die Bilder und Parolen jener Tage zurück?
2006 – Frankreich setzt ein Zeichen gegen seine koloniale Vergangenheit
Erst am 10. Mai 2006 wurde in Frankreich offiziell der „Gedenktag zur Abschaffung der Sklaverei“ eingeführt. Ein historischer Schritt – und längst überfällig. Frankreich, das einst im Dreieckshandel Millionen versklavter Menschen verschleppte, begann damit, offen über die Schatten seiner Kolonialgeschichte zu sprechen.
Dieser Tag erinnert nicht nur an vergangenes Leid, sondern ist auch ein Appell an gesellschaftliche Verantwortung. Denn auch heute kämpfen viele Nachfahren ehemaliger Sklaven mit strukturellem Rassismus und Benachteiligung. Der 10. Mai ist also mehr als ein Erinnern – er ist ein Handlungsauftrag.
Was sagt uns das alles?
Man könnte meinen, der 10. Mai sei so etwas wie ein geschichtlicher Knotenpunkt – ein Tag, an dem sich Grundlinien der Geschichte bündeln. Mal im Glanz eines Sieges, mal im Grauen des Kriegs oder im Zorn der Jugend. Wer diesen Tag betrachtet, sieht einen Spiegel der Menschheit: mit ihren Höhenflügen, ihren Irrwegen, ihrem Drang nach Veränderung.
Und ganz ehrlich: Wenn ein einzelnes Datum so viel Sprengkraft hat – wer würde dann noch behaupten, Geschichte sei trocken?
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