Ein Dorf wie aus dem Bilderbuch – so wirkt Saint-Guilhem-le-Désert auf den ersten Blick. Steingemäuer, enge Gassen, ein Kloster von Weltrang, umrahmt von den schroffen Felsen der Hérault-Schluchten. Ein Ort, der Geschichten atmet. Ein Ort, der eigentlich nur 244 Menschen beherbergt – und doch Jahr für Jahr von rund 600.000 Besucherinnen und Besuchern überrollt wird.
Ein Spannungsfeld, das viele romantische Reisebroschüren verschweigen: Für die einen ist das Dorf ein Juwel des Mittelalters, für die anderen ein tägliches Gedränge, in dem man kaum noch durchkommt.
Wenn Schönheit zur Belastung wird
Saint-Guilhem-le-Désert gilt als eines der „Plus Beaux Villages de France“ und gehört zum UNESCO-Weltkulturerbe. Ein Titel, der einerseits Ehre bedeutet, andererseits eine Lawine an touristischem Andrang mit sich bringt.
Im Sommer verstopfen Menschentrauben die ohnehin schmalen Gassen. Kinderwagen, Wandergruppen, Reisebusladungen – das Idyll wird zur Rushhour. Für die Einheimischen heißt das: Einkäufe besser früh am Morgen, Arztbesuche mit viel Geduld, der Kaffee im Straßencafé wird zur Ausnahme.
Die Frage, die immer drängender wird: Wie viel Besucherverkehr verträgt ein Dorf, ohne seine Seele zu verlieren?
Ein Dorf sucht Antworten
Statt zu klagen, haben die Verantwortlichen reagiert. Die Gemeinde und die Communauté de communes Vallée de l’Hérault arbeiten seit Jahren an Lösungen, die einerseits die Schönheit des Ortes bewahren, andererseits das Leben der Menschen vor Ort erträglicher machen sollen.
Einige Maßnahmen stechen dabei besonders heraus:
- Shuttle-Busse statt Stau
Kostenlose Navettes bringen Besucherinnen und Besucher von ausgelagerten zentralen Parkplätzen und anderen Sehenswürdigkeiten direkt ins Herz des Dorfes. Das reduziert Autoverkehr – und schont Nerven. - Sanfte Mobilität
Ob Carsharing, E-Autos oder gut ausgeschilderte Wanderwege – die Region setzt zunehmend auf klimafreundliche Fortbewegung. Weniger Abgase, mehr Gelassenheit. - Digital statt Papier
Das Tourismusbüro hat seine Broschüren größtenteils ins Netz verlagert. Praktisch für Gäste, entlastend für die Umwelt. - Echte Produkte statt Souvenir-Massenware
Lokale Geschäfte und Märkte setzen auf Olivenöl, Wein, Honig oder Handwerk aus der Umgebung. So bleibt die Wertschöpfung in der Region – und die Einkaufstasche füllt sich mit mehr als nur Erinnerungsplastik.
Ein Label mit Verpflichtung
Bereits 2010 erhielt das Gebiet das renommierte Label „Grand Site de France“ – eine Auszeichnung, die nur Orten zuteil wird, die aktiv an ihrer Zukunft arbeiten. 2025 wurde die Anerkennung für weitere sieben Jahre verlängert.
Doch ein Etikett allein schützt nicht vor Übernutzung. Mit dem Titel verbunden ist ein strenger Maßnahmenplan: Pflege der Landschaft, klare Regeln für Bauvorhaben, Steuerung der Besucherströme und vor allem die Sensibilisierung der Gäste. Jeder, der kommt, soll verstehen: Dieses Dorf ist mehr als eine Postkartenkulisse, es ist ein lebendiges Zuhause.
Zwischen Sehnsucht und Verantwortung
Tourismus kann Fluch und Segen zugleich sein. Er bringt Geld in die Region, hält Cafés und Werkstätten am Leben, sorgt dafür, dass Traditionen nicht in Vergessenheit geraten. Doch er kann auch wie ein Tsunami wirken, der langsam alles überrollt.
Die Bewohner von Saint-Guilhem-le-Désert haben gelernt, mit diesem Zwiespalt zu leben. Sie wollen ihre Türen offenhalten – aber nicht um den Preis, dass die Gemeinschaft erdrückt wird.
Und hier sind auch die Besucher gefragt. Wer das Dorf besucht, sollte nicht nur Fotos machen, sondern Haltung zeigen: Respekt vor den Menschen, die dort wohnen. Rücksicht in den engen Gassen. Vielleicht sogar ein Besuch außerhalb der Hochsaison – wenn der Zauber des Ortes noch stiller, noch greifbarer ist.
Denn nur dann bleibt Saint-Guilhem-le-Désert, was es heute ist: Ein Schatz im Herzen der Hérault-Schluchten, kostbar und verletzlich zugleich.
Autor: C.H.
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