Es war ein Morgen, an dem die Sonne über Nice aufging, als wolle sie vergessen machen, was in der Nacht geschehen war. Doch der Asphalt des Place des Amaryllis im Viertel des Moulins sprach eine andere Sprache: Einschusslöcher in den Fassaden, Blutspuren, Blumensträuße, die hastig niedergelegt wurden. Zwei Tote, drei Verletzte – eine weitere Schießerei in einem Viertel, das schon zu oft zum Tatort geworden ist.
Die Menschen sind nicht nur erschüttert. Sie sind müde. Müde von Versprechen, von kurzzeitigem Aktionismus, von Politikern, die für Kameras kommen und dann wieder verschwinden. „Wir haben genug“, sagt eine Anwohnerin, und in diesen drei Worten liegt der ganze Zorn einer Gesellschaft, die sich abgehängt fühlt.
Der immergleiche Albtraum
Die Gewalt kommt nicht überraschend. In den Straßenschluchten des Viertels des Moulins leidet man schon lange unter Revierkämpfen, unter einer Stimmung, die jederzeit kippen kann. Und dann passiert es. Männer in Kapuzen, Schüsse aus einem Auto, Panik. Die Ermittler sprechen von Banden, von Drogen, von organisiertem Verbrechen. Doch hinter diesen Begriffen stehen Menschen, Nachbarn, Familien.
Was früher Ausnahme war, ist Routine geworden. Das Entsetzen weicht der Gewohnheit, die Angst dem Pragmatismus. Wer dort lebt, hat gelernt, Waffen am Geräusch von Schüssen zu identifizieren – eine bittere Alltagskompetenz im Herzen der Côte d’Azur.
Die Ohnmacht des Staates
Die Polizei wird kommen, sie wird Präsenz zeigen, dann wieder abziehen. Zurück bleibt ein Gefühl der Leere. Nicht, weil niemand sich kümmert, sondern weil das Kümmern zu episodisch, zu reaktiv ist. Es fehlt die Kontinuität, die Nähe, die Verlässlichkeit.
Frankreichs Stadtviertel wie dieses in Nizza sind zu Versuchslaboren geworden – zwischen repressiver Polizeistrategie und überforderter Sozialarbeit. Hier zeigen sich die Risse einer Gesellschaft, die ihre Ränder längst aus dem Blick verloren hat. Wo staatliche Autorität schwindet, übernehmen andere Strukturen die Kontrolle. Und sie tun es mit Kalaschnikows und Pistolen statt mit Kompromissen.
„Ras-le-bol“ – das erschöpfte Land
„L’émotion est grande, le ras-le-bol également“ – der Satz, den man nun überall hört, ist mehr als nur eine Schlagzeile. Er beschreibt ein nationales Gefühl. Frankreich ist erschöpft, mürbe, zornig. Die Bürgerinnen und Bürger trauen dem Staat nicht mehr zu, das Leben in ihren Straßen zu schützen.
In dieser Erschöpfung steckt jedoch auch ein Rest Hoffnung. Denn wer müde ist, ist nicht apathisch. Er will Veränderung. Und vielleicht ist genau dieses kollektive „Ras-le-bol“ die einzige Kraft, die etwas bewegen kann – wenn sie gehört wird.
Die tiefere Frage
Wie viel Sicherheit schuldet der Staat jenen, die am Rand der Städte leben? Und wie viel Vertrauen darf er von ihnen erwarten? Diese Frage stellt sich in Nizza mal wieder mit brutaler Klarheit. Sie ist nicht lokal, sie ist national.
Frankreich diskutiert über Polizeigewalt, über Integration, über die „Peripherie“ – doch selten darüber, was es eigentlich heißt, in einem Land zu leben, das die Gleichheit seiner Bürger beschwört und zugleich ganze Stadtviertel aufgibt. Das Viertel des Moulins in Nizza ist nicht nur ein Tatort, sondern ein Symbol für diese Entfremdung.
Was bleiben muss
Die Schießerei in Nizza ist ein weiterer Schrei im französischen Lärm aus Krisen und Empörung. Doch sie erinnert auch an etwas Grundlegendes: Sicherheit ist nicht nur eine Frage der Ordnung, sondern des Respekts. Wer die Bewohner von des Moulins ernst nimmt, muss ihnen mehr bieten als Polizeipatrouillen. Bildung, Arbeit, öffentliche Präsenz – kurz: ein Stück Zukunft.
Die Menschen in Nizza haben keine Geduld mehr für symbolische Politik. Und vielleicht, ja vielleicht, ist das der Beginn einer neuen Ehrlichkeit. Einer, die sich nicht mit Betroffenheit zufriedengibt.
Autor: Andreas M. B.
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