Ein 136 Meter langer Koloss mit Segeln statt Schornstein – klingt wie aus einer anderen Zeit? Tatsächlich könnte der „Neoliner Origin“ die Zukunft der Frachtschifffahrt neu schreiben. Als erstes großes, kommerzielles Segelschiff seiner Art legt der Frachter gerade eine vielbeachtete Route zurück – und hat nun in Marseille festgemacht.
Ein Hafenstopp mit Symbolkraft.
Wind statt Diesel – und das im großen Stil
Der „Neoliner Origin“ ist mehr als nur ein neuer Name auf dem Wasser. Er ist ein Statement. Entwickelt für den modernen Frachtverkehr, kombiniert das Schiff traditionelle Windkraft mit Hightech-Innovation. Zwei starre Flügelmasten – sogenannte „Solidsails“ – tragen gemeinsam eine beeindruckende Segelfläche von 3.000 Quadratmetern. Damit erreicht das Schiff eine kommerzielle Reisegeschwindigkeit von etwa 11 Knoten.
Ein „Ro-Ro“-Schiff ist der Neoliner: Fahrzeuge, Maschinen, Kühlcontainer – alles, was auf eine Ladefläche gerollt werden kann, findet Platz an Bord. Doch entscheidend ist nicht, was transportiert wird, sondern wie: Die Hauptantriebskraft liefert der Wind. Fossile Brennstoffe? Nur noch als Reserve.
Die Rechnung ist einfach – und doch revolutionär: Weniger Emissionen, mehr Nachhaltigkeit, bei gleichzeitigem Erhalt logistischer Leistungsfähigkeit.
Marseille – mehr als nur ein Zwischenstopp
Am 6. Oktober 2025 lief der Neoliner Marseille an. Der Mittelmeerhafen empfing an diesem Tag nicht bloß ein Schiff, sondern ein Symbol. Denn die Wahl des Zwischenstopps ist kein Zufall. Marseille, einer der größten Häfen Europas, ist eine Bühne. Und diese wird genutzt.
Drei Aspekte stehen bei diesem Halt im Fokus:
1. Sichtbarkeit.
Ein solches Projekt braucht Öffentlichkeit. Und Marseille liefert sie – mit medialer Reichweite, politischem Interesse und einer maritimen Community, die genau hinschaut.
2. Praxistest.
Ein Segelfrachter dieser Größe muss zeigen, dass er nicht nur auf hoher See funktioniert, sondern auch in engen Hafenbecken manövrierfähig bleibt. Reagiert die Technik flexibel genug? Klappen die starren Masten rechtzeitig ein? Lässt sich das Schiff effizient anlegen, be- und entladen?
3. Austausch.
Lokale Akteure, Werften, Ingenieure und Hafenbetreiber sehen den Neoliner nicht nur als Fremdkörper – sondern als möglichen Impulsgeber für eigene Projekte. Die Frage im Raum: Was lässt sich adaptieren?
Komplex, kantig, konsequent: Die Herausforderungen der Wind-Wende
Natürlich ist das alles nicht so einfach wie ein Segel hissen und los geht’s. Der Neoliner bringt Herausforderungen mit sich – strukturell wie operativ.
Manövrierbarkeit: Die starren Segel lassen sich zwar einklappen, doch der Platzbedarf bleibt enorm. Häfen brauchen entsprechende Infrastruktur, um solch ein Schiff sicher aufnehmen zu können. Breite Becken, tiefe Zufahrten, flexible Liegeplätze.
Zuverlässigkeit: Der Wind ist kein zuverlässiger Partner – zumindest nicht überall und jederzeit. Ein Frachtschiff muss aber liefern. Termintreu, wetterunabhängig. Hier kommt der Hybridantrieb ins Spiel: Ein unterstützender Dieselmotor hilft in Flauten oder bei Hafenmanövern. Die große Frage bleibt dennoch: Genügt das für den harten Alltag globaler Lieferketten?
Integration: Neue Schiffstypen bedeuten neue Anforderungen. Nicht nur an Häfen, sondern auch an Logistiker, Versicherungsgesellschaften, Wartungsteams. Der Wandel betrifft die ganze Kette – oder er bleibt ein Nischenprojekt.
Die alte Idee im neuen Kleid
Segelschiffe für den Frachtverkehr – klingt nach 19. Jahrhundert. Doch der Neoliner ist nicht nostalgisch. Er ist Hightech pur. Und er steht nicht allein.
Projekte wie der französische „Anemos“ von TOWT oder die Frachtsegler von Windcoop zeigen: Der Trend ist real. Sogar Raketenbauteile sollen künftig per Windkraft verschifft werden – CO₂-sparend, leise, effizient.
Experten schätzen, dass moderne Segelfrachter bei idealen Bedingungen 50 bis 80 % ihrer CO₂-Emissionen einsparen könnten. Idealbedingungen, wohlgemerkt. Windrichtung, Routenwahl und Wetterlage sind entscheidend. Deshalb bleibt ein Teil Unsicherheit – aber auch Potenzial.
Realistische Hoffnung oder romantische Spielerei?
Der Neoliner ist faszinierend. Doch er ist auch ein Wagnis.
Wirtschaftlich muss er sich noch beweisen. Die Betriebskosten, die technische Komplexität, die Wetterabhängigkeit – all das stellt Fragen, auf die es noch keine endgültigen Antworten gibt.
Aber: Es bewegt sich etwas. Die maritime Branche, oft träge und traditionsverhaftet, beginnt sich zu hinterfragen. Und manchmal braucht es genau solche Projekte – kühn, unkonventionell, visionär –, um Bewegung in alte Strukturen zu bringen.
Bleibt also nur noch eine Frage:
Werden die Segler zurückkehren – nicht als romantische Erinnerung, sondern als treibende Kraft der Zukunft?
Autor: Andreas M. B.
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