Tag & Nacht




Die Ukraine kämpft nicht nur an der Front, sondern auch um ihre politische Zukunft. Während der Krieg gegen Russland in sein viertes Jahr geht, wächst im Land wie im Ausland das Interesse an der Frage: Wer wird die Ukraine nach dem Krieg führen? Obwohl die Präsidentschaftswahlen offiziell ausgesetzt sind, brodelt es hinter den Kulissen gewaltig.

Wahl auf Eis, Spannung im Land

Laut Verfassung hätte die Präsidentschaftswahl im März 2024 stattfinden müssen. Doch die geltende Kriegsrechtslage verhindert jede nationale Abstimmung – vorerst bis zum 9. Mai 2025. Auf den ersten Blick ein legitimer Schritt. Sicherheit geht schließlich vor.

Aber: Diese Verschiebung ist politisch nicht ohne Risiko. Immer mehr Stimmen, auch aus dem Westen, fragen sich, wie lange ein Präsident im Amt bleiben kann, ohne sich dem Wählerwillen zu stellen. Die Mehrheit der Bevölkerung akzeptiert die Lage – doch leise Zweifel werden lauter.

Selenskyj – einst Held, heute umstritten

Als Wolodymyr Selenskyj 2019 mit satten 73 Prozent gewählt wurde, wollte er frischen Wind in die ukrainische Politik bringen. Und dann kam der Krieg. In den ersten Monaten verkörperte Selenskyj die unerschütterliche Entschlossenheit seines Landes – international gefeiert, im Inland bewundert.

Doch der Glanz verblasst. Ein aktuelles Umfragebild: Nur 16 Prozent würden ihn heute wiederwählen. Ganze 60 Prozent sprechen sich dagegen aus. Klartext? Die Unterstützung schwindet.

Und Selenskyj selbst? Der gibt sich pragmatisch. Nur wenn es „absolut notwendig“ sei, werde er noch einmal kandidieren. Mehr noch: Er sei sogar bereit, zurückzutreten, sollte das den NATO-Beitritt beschleunigen oder den Frieden bringen. Eine politische Exitstrategie – oder ein kalkulierter Testballon?

Herausforderer in den Startlöchern

Ein Machtvakuum zieht immer neue Akteure an. Altbekannte Gesichter wie Ex-Präsident Petro Poroschenko oder Ex-Premierministerin Julia Tymo­schenko zeigen sich zwar zurückhaltend, bleiben aber medial präsent. Niemand will den ersten Stein werfen – aber jeder sucht die beste Startposition.

Besonderes Augenmerk gilt jedoch einem Mann: Valery Saluschnyj, der ehemalige Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte. Sein militärisches Ansehen macht ihn zu einer glaubwürdigen Figur – auch für viele, die genug von der etablierten Politik haben. Er schweigt bislang, was seine Popularität nicht schmälert – im Gegenteil.

Zwischen Geopolitik und Gerüchten

In Washington wird die Lage aufmerksam beobachtet. Es gab bereits Treffen zwischen US-Vertretern und ukrainischen Oppositionspolitikern – was die Gerüchteküche kräftig anheizt. Wird hier schon der nächste Präsident „gecastet“?

Währenddessen betreibt Russland seine eigene PR: Moskau nennt Selenskyj längst „illegal“ im Amt – ein propagandistisches Manöver, das bei westlichen Medien auf taube Ohren stößt, aber dennoch Wirkung entfalten kann. Gerade in Zeiten, in denen das Vertrauen in demokratische Prozesse ohnehin bröckelt.

Was kommt nach dem Krieg?

Die politische Zukunft der Ukraine hängt eng mit dem Kriegsverlauf zusammen. Ein möglicher Friedensschluss oder das Ende der Kampfhandlungen wäre der Startschuss für Neuwahlen. Aber wie organisiert man Wahlen in einem Land, das zum Teil zerstört ist, in dem Millionen im Ausland leben und Zehntausende an der Front stehen?

Die technische Hürde ist riesig. Doch mindestens ebenso gewichtig ist die symbolische Bedeutung: Eine Wahl wäre ein Zeichen von Normalität – ein Beweis dafür, dass die Demokratie lebt.

Neue Hoffnung oder neuer Konflikt?

Die Ukraine steht an einem Wendepunkt. Auf der einen Seite droht politische Stagnation, auf der anderen bietet sich die Chance für einen Neustart. Inmitten der Trümmer des Krieges könnte sich eine neue politische Generation formieren – entschlossen, glaubwürdig, international anschlussfähig.

Aber wie stabil ist ein solcher Prozess in einem Land im Ausnahmezustand?

Diese Frage wird die Ukraine bald beantworten müssen.

Von Andreas M. Brucker

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