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Frauen fühlen sich in öffentlichen Verkehrsmitteln oft unsicher – und das aus gutem Grund. Ein neuer Bericht des Observatoire national des violences faites aux femmes zeigt, dass sieben von zehn Frauen in der Region Paris im Laufe ihres Lebens bereits sexistische oder sexuelle Gewalt in Bussen, Bahnen oder Metros erlebt haben. Besonders junge Frauen sind betroffen.

Ein alltägliches Problem mit erschreckenden Zahlen

Blicke, die zu lange verweilen, anzügliche Bemerkungen, sexuelle Belästigung oder gar Übergriffe – viele Frauen empfinden den öffentlichen Nahverkehr als unsicheren Raum. Laut einer Untersuchung der RATP (Pariser Verkehrsbetriebe) aus dem Jahr 2022 haben 90 % der Frauen zwischen 19 und 25 Jahren bereits Übergriffe erlebt.

Die Formen der Gewalt variieren:

  • 39 % berichten von sexistischen oder sexuellen Beleidigungen.
  • 19 % wurden sexuell belästigt.
  • 15 % wurden sexuell angegriffen.
  • 13 % waren Opfer von Exhibitionismus.
  • 6 % gaben an, dass sie eine Vergewaltigung oder einen Vergewaltigungsversuch erlebt haben.

Warum gerade öffentliche Verkehrsmittel?

„In überfüllten Zügen oder Bussen, wo Körper auf engstem Raum zusammengedrängt werden und Fluchtmöglichkeiten fehlen, fühlen sich Täter oft sicher“, erklärt Manon Marguerit, Forscherin für Stadtentwicklung. Besonders häufig treten dabei sogenannte „Frotteure“ und Exhibitionisten in Erscheinung. Doch auch ständige Blicke, sexistische Beleidigungen oder unerwünschte Berührungen hinterlassen tiefe Spuren.

Kaum Anzeigen – warum schweigen die Opfer?

Nur 7 % der betroffenen Frauen erstatten Anzeige. Eine Zahl, die zeigt, wie schwer es vielen fällt, sich gegen diese Art von Gewalt zu wehren. Die Gründe dafür sind vielfältig: Angst vor einer erneuten Konfrontation, mangelndes Vertrauen in die Justiz oder schlichtweg die Annahme, dass eine Anzeige ohnehin nichts bewirken würde.

Laut Innenministerium entfallen rund 3 % aller registrierten sexuellen Übergriffe in Frankreich auf den öffentlichen Nahverkehr – eine Zahl, die seit 2016 konstant bleibt.

Täter sind fast ausschließlich Männer

Die Statistik ist eindeutig: 99 % der Verdächtigen sind Männer, während 91 % der Opfer Frauen sind. Besonders betroffen sind Frauen unter 30 Jahren, die 75 % der Opfer ausmachen, und minderjährige Mädchen, die mit 36 % ebenfalls einen alarmierenden Anteil darstellen.

Die Vorstellung, dass Täter zwanghaft oder psychisch auffällig sein müssen, hält die Forscherin Marguerit für gefährlich:

„Sexuelle Gewalt im öffentlichen Raum ist kein Ausbruch unkontrollierter Triebe, sondern eine Strategie. Die Täter wissen genau, wann und wo sie handeln können, um unentdeckt zu bleiben.“

Tatsächlich zeigt die Analyse der gemeldeten Fälle, dass Täter oft bestimmte Uhrzeiten und Orte bevorzugen. 29 % der Angriffe finden nach 19 Uhr statt, aber auch tagsüber gibt es viele Vorfälle:

  • 28 % zwischen 12 und 17 Uhr
  • 20 % zwischen 7 und 12 Uhr
  • 19 % zwischen 17 und 19 Uhr

Öffentliche Verkehrsmittel während der Stoßzeiten bieten ihnen den Vorteil der Anonymität – die dichte Menschenmenge erlaubt es ihnen, unauffällig zu agieren und schnell wieder zu verschwinden.

Gewalt als Mittel der Machtdemonstration

Sexuelle Belästigung ist nicht nur Ausdruck individueller Übergriffe, sondern auch ein Mittel, um Machtverhältnisse aufrechtzuerhalten.

„Es geht nicht nur darum, vermeintliche Triebe zu befriedigen – es geht darum, Frauen zu zeigen, dass dieser Raum Männern gehört“, erklärt Raphaël Adamczak, Sozialpsychologe.

Strategien der Frauen: Unsichtbar bleiben, vermeiden, schützen

Die ständige Angst vor Belästigung oder Übergriffen beeinflusst das Verhalten vieler Frauen nachhaltig:

  • 68 % kleiden sich in öffentlichen Verkehrsmitteln bewusst anders.
  • 60 % meiden bestimmte Transportmittel, wenn sie denken, dass ihre Kleidung „auffällig“ sein könnte.
  • 83 % stellen sich lieber mit dem Rücken zur Wand oder Tür, um ungewollten Kontakt zu vermeiden.
  • 93 % setzen sich gezielt neben andere Frauen oder Familien, um potenzielle Gefahrensituationen zu umgehen.

Die psychologischen Folgen sind schwerwiegend:

  • 34 % der Betroffenen empfinden nach einem Vorfall Scham.
  • 26 % fühlen sich traurig oder depressiv.
  • 23 % ziehen sich aus Angst und Frust zurück.
  • 70 % sind wütend über das Erlebte.
  • 60 % wünschen sich dringend Veränderungen.

Zunehmend Unterstützung durch Mitreisende

Ein Lichtblick: Immer mehr Menschen schreiten ein, wenn sie Übergriffe beobachten. Während 2016 nur 10 % der Betroffenen Hilfe von Mitreisenden erhielten, waren es 2023 bereits 23 %.

In den Pariser Verkehrsmitteln fühlen sich vier von fünf Frauen, die sich an das Personal wenden, gut betreut und ernst genommen. Auch die Zahl der offiziellen Meldungen ist um 86 % gestiegen.

Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit

Um Frauen besser zu schützen, haben die Verkehrsbetriebe verschiedene Sicherheitsmaßnahmen eingeführt:

  • Informationskampagnen gegen Belästigung und Gewalt
  • Schulungen für das Personal, um Übergriffe schneller zu erkennen
  • Flexiblere Haltemöglichkeiten bei Nacht – auf manchen Buslinien kann man nach 22 Uhr zwischen den regulären Haltestellen aussteigen
  • Anonyme Meldesysteme, um Vorfälle leichter zu dokumentieren
  • Sicherheitsbegehungen mit Fahrgästen, um Angsträume zu identifizieren und zu entschärfen

Ob diese Maßnahmen ausreichen, um die tief verwurzelten Probleme zu lösen? Noch ist die Angst für viele Frauen ein ständiger Begleiter in den öffentlichen Verkehrsmitteln – doch zumindest scheint das Bewusstsein für das Problem endlich zu wachsen.

Catherine H.

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