Ein Fahrrad. Ein Traum. Und plötzlich: ein Gefängnis in Sibirien.
Was wie der Beginn eines dystopischen Romans klingt, war für den französischen Ausdauerradfahrer Sofiane Sehili brutale Realität. Sein Ziel war sportlich, ehrgeizig, vielleicht ein bisschen verrückt: Von Lissabon bis nach Wladiwostok, quer durch 17 Länder, allein auf dem Rad – um einen Weltrekord aufzustellen. Doch an der russischen Grenze endete seine Fahrt jäh. Nun, nach fast zwei Monaten in Haft, ist der 44-Jährige wieder frei. Und seine Geschichte wirft Fragen auf – über Bürokratie, Sport, Freiheit und eine ungewöhnliche Odyssee.
Mit dem Fahrrad durch die Welt – aber nicht durch jede Grenze
Es war Anfang Juli, als Sofiane Sehili in Portugal aufbrach. Der Extremsportler, bekannt in der Szene der sogenannten „Bikepack-Rennen“, plante eine epische Reise: Von der Westküste Europas bis zum fernen Osten Russlands. Über 14.000 Kilometer, allein, ohne Begleitfahrzeug – und ohne ein anderes Verkehrsmittel als sein Rad.
Alles lief wie am Schnürchen. Bis zur russisch-chinesischen Grenze.
Dort, in der fernöstlichen Region Primorje, stand er plötzlich vor einer Regel, mit der er nicht gerechnet hatte: Der Grenzposten war zwar offiziell geöffnet, aber nur für Busse und Züge passierbar. Kein Durchkommen auf zwei Rädern. Kein Wenn und Aber. Ein formaler Stolperstein mit drastischen Folgen.
Zwischen Pedalen und Paragraphen
Sofiane, überzeugt davon, dass sein sportlicher Ehrgeiz überzeugen würde, stellte sich den Grenzbeamten. Er sei, so berichtet seine Lebensgefährtin Fanny Bensussan, überzeugt gewesen, dass man ihm ausnahmsweise die Durchfahrt auf dem Rad erlauben würde. Doch der Traum vom Weltrekord endete mit einem Haftbefehl – wegen „illegalem Grenzübertritt“.
Was folgte, war eine kafkaeske Episode: Erst Untersuchungshaft, dann eine richterliche Entscheidung zur Verlängerung der Haft bis zum 4. Oktober – später noch einmal verlängert bis zum 3. November. Für einen Mann, der gewohnt ist, frei durch Landschaften zu radeln, dürfte das eine seelische Tortur gewesen sein.
Freispruch mit Fußnote
Nun die überraschende Wende: Am 23. Oktober verurteilte ein Gericht in Primorje den französischen Radfahrer offiziell wegen illegalen Grenzübertritts – verhängte aber lediglich eine Geldstrafe von 50.000 Rubel, rund 530 Euro. Und selbst diese muss er nicht zahlen. Die bereits verbrachte Untersuchungshaft rechnete das Gericht an – ein juristisches Salär für zwei Monate Unfreiheit.
„Sofiane kommt nach Hause“, schrieb Freundin Fanny auf Instagram. Kein Pathos, kein Kommentar – nur diese vier Worte. Und doch schwingen darin Erleichterung, Liebe, vielleicht auch ein wenig Wut.
Was bleibt von dieser Geschichte?
Ein Mann, der alles auf eine Karte setzte – und verlor. Zumindest vorübergehend. Aber auch ein System, das kaum Spielraum lässt für die Träume Einzelner. Die Regel, die Sofiane das Genick brach, ist keine Schikane, sondern Teil der russischen Grenzordnung. Sicherheit geht vor, so das Argument. Verständlich. Aber gleichzeitig wirkt sie wie eine unnötige Barriere für einen, der kein Risiko darstellte.
Hätte es einen pragmatischeren Weg gegeben? Vielleicht. Doch im Nachhinein ist es leicht, zu urteilen.
Grenzen im Kopf – und auf der Landkarte
Sofiane Sehili ist kein naiver Träumer. Er weiß, was es heißt, an die physischen und mentalen Grenzen zu gehen. Seine Rekorde, seine Erfolge bei Langstreckenrennen wie dem „Silk Road Mountain Race“ oder dem „Atlas Mountain Race“, sind legendär in der Szene. Er kennt Strapazen, Schlafmangel, Schmerzen.
Aber diesmal war es kein Berg, den er bezwingen musste, sondern eine Grenze. Nicht aus Asphalt, sondern aus Paragrafen.
Und was nun?
Wird Sofiane zurück aufs Rad steigen? Natürlich, ja. Wer einmal den Asphalt in den Beinen hat, den lässt er nicht mehr los. Vielleicht wird er diesen Rekordversuch wiederholen – auf einer legaleren Route. Vielleicht auch nicht. Aber sicher ist: Diese Geschichte wird ihn begleiten. Und sie wird weitererzählt – von Abenteurern, Radfahrern, Träumern.
Und sie wirft eine rhetorische Frage auf, die hängen bleibt: Wie viel Bürokratie verträgt der Traum vom freien Reisen?
Sofiane Sehili hat eine Antwort gefunden. Und ein kleines Stück von ihr trägt er jetzt mit sich – irgendwo zwischen Portugal und Wladiwostok.
Von C. Hatty
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