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Die Steuersaison in den Vereinigten Staaten droht in diesem Jahr zu einem historischen Wendepunkt zu werden. Hochrangige Beamte im US-Finanzministerium rechnen mit einem Rückgang der Steuereinnahmen von mehr als zehn Prozent im Vergleich zum Vorjahr – ein Minus von über 500 Milliarden Dollar. Diese Zahl steht sinnbildlich für eine institutionelle Krise: Die Steuerbehörde IRS (Internal Revenue Service), seit Jahrzehnten Rückgrat der föderalen Einnahmeerhebung, wird systematisch geschwächt. Im Zentrum der Debatte steht die neue Regierung unter Präsident Donald Trump.

Ein beispielloser Rückgang

Die offiziellen Prognosen, gestützt auf interne Berechnungen der IRS, deuten darauf hin, dass bis zum Stichtag am 15. April signifikant weniger Steuererklärungen eingereicht und ausstehende Zahlungen beglichen werden als im Vorjahr. Schon jetzt verzeichnet die Behörde 1,7 Prozent weniger eingegangene Erklärungen – ein Wert, der auf den ersten Blick moderat erscheint, sich jedoch in deutlich drastischeren Rückgängen bei den erwarteten Einnahmen niederschlägt.

Insgesamt beliefen sich die Steuereinnahmen der USA im Jahr 2024 auf 5,1 Billionen Dollar. Ein Rückgang um zehn Prozent entspricht in etwa den gesamten jährlichen Ausgaben des US-Verteidigungsministeriums. Damit droht nicht nur ein haushaltspolitisches Problem, sondern ein tiefer Eingriff in die fiskalische Stabilität des Landes.

Ursachenforschung: Personalkürzungen und institutionelle Demontage

Zentraler Treiber dieses dramatischen Einbruchs ist nicht etwa eine wirtschaftliche Rezession – die US-Wirtschaft wuchs 2024 um solide 2,8 Prozent – sondern ein fundamentaler Umbau der IRS durch die neue Regierung. Seit dem Amtsantritt Trumps wurden bereits über 11.000 Mitarbeitende der Steuerbehörde entlassen, insgesamt sind bis zu 20.000 Stellen gefährdet. Besonders betroffen sind Bereiche wie Steuerzahlerdienste und die Steuerfahndung – also jene Abteilungen, die für Kontrolle und Durchsetzung der Steuergesetze verantwortlich sind.

Die Folge: Ermittlungen gegen große Konzerne und wohlhabende Einzelpersonen wurden mangels Kapazitäten eingestellt, zentrale Systeme der Behörde laufen auf Notbetrieb. Zwei IRS-Kommissare sowie die Leiterin der Steuer-Compliance, Heather Maloy, haben in den vergangenen Monaten ihren Rücktritt erklärt. Die institutionelle Erosion ist nicht mehr zu übersehen.

Verändertes Steuerverhalten und digitale Resignation

Der Vertrauensverlust in die Durchsetzungsfähigkeit der IRS schlägt sich auch im Verhalten der Steuerzahler nieder. Die Behörde beobachtet eine Zunahme an Online-Kommentaren, in denen Individuen ankündigen, bewusst keine Steuern zu zahlen oder unrechtmäßig hohe Rückzahlungen geltend zu machen – in der Annahme, dass die Behörde ohnehin nicht eingreifen könne.

Das neue Klima einer faktischen Straflosigkeit trifft auf eine ohnehin herausgeforderte digitale Infrastruktur. Zwar strebt die IRS laut internen Präsentationen eine umfassende Digitalisierung und Automatisierung ihrer Prozesse an – doch diese Transformation benötigt Zeit, Expertise und Ressourcen. Die Realität in der aktuellen Steuersaison zeigt jedoch eine Überlastung: Die Erreichbarkeit der IRS-Hotlines sank im Vergleich zum Vorjahr von 93,6 auf 85 Prozent.

Der politische Kontext: Ideologie versus Verwaltung

Bereits während der Übergangsphase zur neuen Trump-Regierung warnte die Steuerbehörde in einem internen 68-seitigen Dossier eindringlich vor den Risiken drastischer Kürzungen. Die Präsentation verglich die Arbeit der IRS mit einem Fließband: Bei halbiertem Personal sei auch nur die Hälfte der Produktivität zu erwarten. Empfehlungen für eine schrittweise Modernisierung wurden ignoriert – stattdessen setzte das Weiße Haus auf eine sofortige Verkleinerung der Behörde, unterstützt durch republikanische Mehrheiten im Kongress, die jüngst weitere 20,2 Milliarden Dollar an IRS-Mitteln strichen.

Der Präsident verfolgt damit eine seit Jahren gepflegte Linie: Misstrauen gegenüber föderalen Institutionen, insbesondere jenen, die er als Teil des „administrativen Tiefenstaates“ begreift. Bereits in seiner ersten Amtszeit hatte Trump die IRS unter Druck gesetzt, etwa durch die Besetzung von Schlüsselpositionen mit loyalen Parteigängern und die Verweigerung zusätzlicher Budgetmittel.

Konsequenzen für Haushalt und Gesellschaft

Die Auswirkungen auf die Finanzpolitik der USA könnten gravierend sein. Die IRS generiert rund 95 Prozent der jährlichen Staatseinnahmen. Ein strukturelles Einnahmedefizit bedeutet zwangsläufig höhere Schulden, sollte der Kongress keine massiven Ausgabenkürzungen vornehmen – ein politisch höchst unwahrscheinliches Szenario angesichts bestehender Verteidigungs-, Sozial- und Gesundheitsausgaben.

Bereits jetzt beläuft sich die US-Staatsverschuldung auf 36,2 Billionen Dollar. Ein Defizit in dreistelliger Milliardenhöhe würde das Vertrauen in die fiskalische Nachhaltigkeit weiter untergraben – mit potenziellen Folgen für Zinsen, Inflation und die Kreditwürdigkeit des Landes.

Zugleich offenbart die Krise eine gesellschaftliche Schieflage. Während Angestellte mit festen Einkommen ihre Steuern automatisch abführen, können Selbstständige, Unternehmer und Vermögende nun leichter Regelverstöße begehen. Die ohnehin bestehende Steuerlücke – jene Differenz zwischen geschuldeten und tatsächlich gezahlten Steuern – droht sich weiter zu vergrößern. Der Glaube an Steuergerechtigkeit steht auf dem Spiel.

Der Rückgang der Steuereinnahmen ist damit nicht nur ein fiskalisches, sondern auch ein demokratisches Problem. Ein Staat, der seine Einnahmen nicht mehr verlässlich sichern kann, verliert an Legitimität und Handlungsfähigkeit. Die gegenwärtige Entwicklung ist kein Betriebsunfall – sie ist das Ergebnis bewusster politischer Entscheidungen.

Autor: MAB

Quellen:

  • The Washington Post, 21. März 2025: „IRS braces for sharp revenue loss amid filing season chaos“
  • Congressional Budget Office (CBO)
  • Internal Revenue Service (IRS), Filing Season Statistics 2024/2025
  • U.S. Department of the Treasury
  • Bureau of Economic Analysis (BEA)
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