Ein Pariser Prozess rückt Europas gespaltenes Verhältnis zur Migration in den Fokus.
Sieben Menschen starben im Juli 2023 beim Versuch, in einem Schlauchboot den Ärmelkanal zu überqueren. Es war nicht das erste Bootsunglück in diesen Gewässern, es wird kaum das letzte gewesen sein. Die Bilder solcher Tragödien sind hinlänglich bekannt – was bleibt, ist das Entsetzen. Und nun, über zwei Jahre später, der Versuch einer juristischen Aufarbeitung: Neun Männer stehen seit gestern in Paris vor Gericht. Der Vorwurf: organisierte Schleusung. Ihr Motiv: mutmaßlich Gewinn. Ihre Verantwortung: möglicherweise der Tod von sieben Menschen.
Der französische Staat setzt mit diesem Prozess ein Zeichen. Nicht nur gegen jene, die aus Verzweiflung eine lebensgefährliche Route wählen, sondern gegen jene, die aus dieser Verzweiflung ein Geschäftsmodell machen. Das ist richtig – und notwendig. Denn was sich im Schatten der Migration abspielt, ist ein vielschichtiges Drama aus Armut, Perspektivlosigkeit und Ausbeutung. Die Angeklagten sollen Teil eines Netzwerks gewesen sein, das Migranten systematisch über den Ärmelkanal schleuste. Die Logistik war offenbar erprobt, die Methode bekannt: vollbesetzte Schlauchboote, Nachtfahrt, keine Schwimmwesten, keine Navigation – ein Spiel mit dem Tod.
Doch wer jetzt auf schnelle Gerechtigkeit hofft, wird sich gedulden müssen. Der Rechtsstaat arbeitet langsamer als die Boote der Schleuser. Das ist keine Schwäche, sondern seine Stärke. Der Prozess in Paris ist der Versuch, die Verantwortlichen zu ermitteln – und zugleich ein Testfall für die juristische Handlungsfähigkeit in grenzüberschreitenden Delikten. Denn die Fluchtroute endet in Großbritannien, beginnt aber auf französischem Boden. Ein rechtlicher Graubereich, in dem staatliche Zuständigkeiten verschwimmen und politische Interessen aufeinandertreffen.
Frankreich steht unter Druck – nicht nur aus London, sondern auch aus der eigenen Bevölkerung. Migration ist längst zu einem Reizthema geworden, in den Vororten ebenso wie in den Medien. Das Urteil in diesem Fall wird daran nichts ändern, aber es wird bewertet werden: als Signal der Härte oder der Hilflosigkeit. Die Wahrheit liegt, wie so oft, dazwischen. Der Staat kann gegen Schleuser vorgehen, er kann Netzwerke zerschlagen, Prozesse führen, Urteile fällen. Aber er kann nicht verhindern, dass es immer neue Wege gibt, solange Menschen fliehen – vor Krieg, Hunger, Verfolgung oder Hoffnungslosigkeit.
Die Politik muss begreifen, dass der Kampf gegen Schleuser nur die halbe Arbeit ist. Solange es keine legalen Alternativen gibt, werden die illegalen Routen nicht versiegen. Solange sich Verzweiflung nicht an Grenzen hält, bleiben auch Grenzzäune nur symbolisch wirksam. Der Prozess in Paris ist ein notwendiger Schritt – aber er löst nicht das strukturelle Dilemma.
Am Ende bleibt die Frage, die nicht vor Gericht verhandelt wird: Wie viele Tote braucht es noch, bis Europa sich auf eine gemeinsame Migrationspolitik einigt, die diesen Namen verdient? Eine, die Schleuser nicht nur bestraft, sondern überflüssig macht.
Autor: Andreas M. Brucker
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