Wie die neue US-Sicherheitsstrategie die transatlantischen Beziehungen auf eine harte Probe stellt
Mit der Veröffentlichung ihrer neuen Nationalen Sicherheitsstrategie hat die US-Regierung unter Donald Trump Anfang Dezember 2025 für diplomatische Irritationen gesorgt. In dem 33-seitigen Grundlagendokument wird Europa nicht nur als wirtschaftlich und politisch geschwächt beschrieben – es ist gar von einem drohenden „zivilisatorischen Verschwinden“ die Rede, sollte der Kontinent seine politische und demografische Entwicklung nicht korrigieren. Die Wortwahl ist ungewöhnlich drastisch für ein offizielles Strategiepapier – und sie markiert einen weiteren Tiefpunkt in den transatlantischen Beziehungen.
Eine harsche Diagnose aus Washington
Die neue National Security Strategy (NSS) formuliert die außen- und sicherheitspolitischen Leitlinien der USA unter Präsident Trump für die kommenden Jahre. Dabei fällt der Blick auf Europa ungewöhnlich kritisch aus. Die Autoren beklagen eine Kombination aus demografischem Niedergang, zu liberaler Migrationspolitik, wirtschaftlicher Stagnation und einem zunehmenden Einfluss supranationaler Institutionen wie der EU auf nationale Souveränität.
Wörtlich heißt es, der Kontinent steuere „auf eine düstere Realität zu, in der er innerhalb von zwei Jahrzehnten nicht mehr wiederzuerkennen sein wird“. Der Begriff des „zivilisatorischen Verschwindens“ bringt dabei eine Weltanschauung zum Ausdruck, in der kulturelle und ethnische Homogenität als politisches Ideal erscheint – eine Sichtweise, die in Europa vor allem von rechten bis rechtsextremen Kreisen vertreten wird.
Strategiewechsel und ideologische Kampfansage
Tatsächlich steht diese Wortwahl nicht isoliert da, sondern reflektiert einen tiefgreifenden Wandel in der außenpolitischen Philosophie Washingtons. Die USA unter Trump verstehen sich nicht mehr als Architekt eines liberalen, regelbasierten Weltordnungssystems, sondern als machtpolitischer Akteur, der eigene Interessen über multilaterale Verpflichtungen stellt – ein Kurs, der in der Rückbesinnung auf die Monroe-Doktrin seinen Ausdruck findet.
Wie der Politökonom Jonas Gensler analysiert, will Washington eine ideologische „Gegenbewegung“ innerhalb Europas fördern. Ziel sei es, europäische Regierungen und Gesellschaften zu einer „Korrektur ihrer derzeitigen politischen und gesellschaftlichen Ausrichtung“ zu bewegen – sei es in der Sicherheits-, Energie- oder Migrationspolitik. Implizit fordert die NSS auch eine stärkere militärische Selbstverantwortung der Europäer, insbesondere im Rahmen der NATO.
Europäische Reaktionen zwischen Besorgnis und Zurückweisung
Die Reaktionen auf beiden Seiten des Atlantiks ließen nicht lange auf sich warten. Die EU-Außenbeauftragte Josep Borrell betonte in Brüssel, dass die Vereinigten Staaten trotz aller Differenzen „nach wie vor der wichtigste Verbündete Europas“ seien. Zugleich wies er die dramatisierende Rhetorik entschieden zurück: Europa befinde sich nicht in einem zivilisatorischen Verfallsprozess, sondern inmitten komplexer Transformationsprozesse, die demokratisch ausgehandelt würden.
In Berlin zeigte man sich ungehalten über die amerikanischen Bewertungen. „Europa braucht keine Belehrungen über Meinungsfreiheit oder kulturelle Identität“, hieß es aus dem Auswärtigen Amt. In Paris wiederum warnte man vor einer gefährlichen ideologischen Aufladung der transatlantischen Beziehungen, insbesondere angesichts des anhaltenden Krieges in der Ukraine und der Abhängigkeit Europas von US-amerikanischer Sicherheitsgarantie im NATO-Rahmen.
Ein Meinungsbild des Meinungsforschungsinstituts IFOP ergab zuletzt, dass knapp die Hälfte der Europäer Donald Trump als „Feind Europas“ wahrnimmt – ein Wert, der die gestiegene Distanz in der öffentlichen Wahrnehmung widerspiegelt.
Polarisierung als politische Strategie
Der Verweis auf ein angeblich bevorstehendes zivilisatorisches Verschwinden Europas ist mehr als eine außenpolitische Provokation. Er ist Teil einer bewusst polarisierenden Strategie, die kulturelle und gesellschaftliche Konfliktlinien auch auf internationaler Ebene zuspitzt. Damit korrespondiert die NSS mit Narrativen, wie sie in Teilen der europäischen Rechten kursieren – etwa der sogenannten „Bevölkerungsaustausch“-These, die vom französischen Publizisten Renaud Camus geprägt wurde und mittlerweile fester Bestandteil rechtsextremer Diskurse ist.
Diese Verbindung ist nicht zufällig: Trumps Strategiepapier liest sich stellenweise wie eine außenpolitische Verlängerung innenpolitischer Kulturkämpfe. Europa wird dabei nicht nur als Partner, sondern auch als ideologischer Gegenentwurf inszeniert – ein Narrativ, das der Präsident im beginnenden US-Wahlkampf 2026 vermutlich weiter zuspitzen wird.
Strategische Autonomie als europäische Antwort?
Für Europa stellt sich nun erneut die alte Frage: Wie viel Eigenständigkeit braucht – und wie viel verträgt – das transatlantische Verhältnis? Während die militärische Kooperation im Rahmen der NATO weiterbesteht, verstärken sich die Stimmen, die eine eigenständigere europäische Sicherheitsarchitektur fordern. Initiativen wie PESCO (Ständige Strukturierte Zusammenarbeit) oder die Entwicklung eines europäischen Rüstungs- und Verteidigungsfonds erhalten dadurch neues Gewicht.
Gleichzeitig zeigt sich: Der normative Rahmen einer „westlichen Wertegemeinschaft“ ist nicht mehr selbstverständlich. Die USA und Europa verfolgen zunehmend unterschiedliche gesellschaftspolitische Agenden – und das nicht nur unter Trump. Auch im Kongress findet diese strategische Neuorientierung zunehmend parteiübergreifende Unterstützung, etwa im Hinblick auf den Rückzug aus globalen Verpflichtungen oder den Fokus auf chinesische und lateinamerikanische Herausforderungen.
Europa muss darauf eine Antwort finden – und dabei entscheiden, ob es sich als Subjekt oder Objekt globaler Ordnungspolitik verstehen will.
Die Warnung vor einem „zivilisatorischen Untergang“ ist keine geopolitische Prognose, sondern eine Kampfansage in rhetorischer Form. Doch sie offenbart einen tiefen Bruch im transatlantischen Selbstverständnis. Was einst als Wertegemeinschaft begann, steht heute auf dem Prüfstand gemeinsamer Interessen – und das zu einem Zeitpunkt, an dem geopolitische Herausforderungen wie Krieg, Klimakrise und Migration entschlossene und koordinierte Antworten verlangen. Die Dynamik zwischen Washington und Brüssel könnte sich im kommenden Jahrzehnt grundlegend verändern – und damit das transatlantische Verhältnis, wie wir es bisher kannten.
Autor: P. Tiko
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