Kurz vor dem geplanten beginn neuer Friedensgespräche zwischen der Ukraine und Russland hat Kiew seine Schlagkraft demonstriert – und zwar so deutlich wie selten zuvor. Während die Welt auf diplomatische Annäherung hofft, fliegen über 4.000 Kilometer entfernt Drohnen Angriffe auf russische Militärstützpunkte – ein strategisches Trommelfeuer mit überraschender Reichweite.
Sonntagmorgen: Irkutsk, tief in Sibirien. Auf einem Video, das auf Telegram viral geht, hebt eine Drohne von einem Lastwagen ab. Knatternde Salven aus automatischen Waffen hallen durch die Luft, russische Soldaten versuchen das Flugobjekt vom Himmel zu holen. Eine zweite Drohne schließt sich dem Manöver an und nimmt Kurs auf den nahegelegenen Militärflugplatz Belaïa – ein Ort, an dem normalerweise schwere russische Bomber auf ihren Einsatz gegen die Ukraine warten.
In der gleichen Nacht wird ein weiteres russisches Luftwaffenlager im Hohen Norden getroffen. Auch hier: Kamikaze-Drohnen, präzise Einschläge, keine Vorwarnung. Die Operation trägt den Namen „Spinnennetz“ – und so raffiniert wie ihr Name ist auch ihre Durchführung. Ukrainische Geheimdienste stehen hinter dem Coup und haben nicht nur Bildmaterial von den Angriffen verbreitet, sondern auch Vorbereitungsfotos aus dem eigenen Lager publik gemacht.
Was ist da los?
Eine derart tief ins Herz Russlands zielende Luftschlag-Serie – mit Angriffen bis in die Region Irkutsk, rund 4.300 Kilometer von der Ukraine entfernt – hat es bislang in diesem Krieg nicht gegeben. Damit überschreitet die Ukraine eine neue Schwelle des Krieges, die weit über die Grenze der Krim oder des Donbass hinausgeht. Eine regelrechte Demonstration technischer Raffinesse und psychologischer Wucht.
Und die Bilder sind schwer verdaulich für Moskau. In einem Video werfen russische Soldaten mit Steinen nach den Drohnen, in einem fast verzweifelten Versuch, das Unvermeidliche zu verhindern. Es erinnert an eine Szene aus einem dystopischen Film – nur ist sie real. Die Vorstellung, dass Soldaten der einst so gefürchteten russischen Armee mit Steinwürfen gegen hochmoderne Drohnentechnologie vorgehen müssen, ist ein Symbol für einen dramatischen Wandel auf dem Schlachtfeld.
Nicht nur die Luftwaffe wird getroffen.
Parallel zu diesen Angriffen meldet die Region Briansk – unweit der ukrainischen Grenze – Sabotageakte auf das russische Eisenbahnnetz. Auch hier steckt offenbar Kiew dahinter. Ein verzweigtes Vorgehen, das zeigt: Die Ukraine kämpft nicht nur an der Frontlinie, sondern auch im Schatten – und das mit wachsender Raffinesse.
Was bedeutet das für den weiteren Kriegsverlauf?
Diese Art von Operation bringt vor allem eins mit sich: Unsicherheit. Russland muss sich nun auf eine neue Realität einstellen. Der Schutz des eigenen Luftraums, selbst Tausende Kilometer vom Kriegsgeschehen entfernt, ist offenbar nicht mehr gewährleistet. Wer jetzt noch dachte, dass nur die Ukraine täglich mit Sirenen und Einschlägen leben muss, sieht sich getäuscht.
Die Aktion „Spinnennetz“ ist mehr als nur ein Schlag gegen militärische Infrastruktur. Sie ist ein psychologisches Statement. Ein Fingerzeig in Richtung Kreml: „Eure Sicherheit ist eine Illusion.“
Wie reagiert Moskau?
Noch hüllt sich der Kreml in Schweigen, doch Experten rechnen mit einer scharfen Antwort. Entweder durch verstärkte Gegenoffensiven oder durch Propaganda. Eines ist jedoch klar – mit jedem erfolgreichen Angriff auf russischem Boden schwindet Putins Nimbus der militärischen Unverwundbarkeit ein Stück weiter.
Und während all das passiert, soll in Istanbul erneut über Frieden verhandelt werden. Ironie der Geschichte – oder Teil eines größeren Plans? Eine Frage, die sich viele stellen dürften.
Der Krieg hat eine neue Etappe erreicht. Nicht durch Worte, sondern durch rotierende Rotoren und lautlose Einschläge mitten in der Nacht.
Von C. Hatty
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