Tag & Nacht


Er thront wie ein Mahnmal der Geschichte über dem Meer – ein massiver Betonklotz, Relikt der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg, an die Spitze einer weißen Steilküste bei Wissant. Für manche ist es nur ein Stück Beton, für andere ein dramatischer Hintergrund für das perfekte Foto. Doch das Schauspiel hat eine dunkle Kehrseite: Der Bunker steht kurz davor, ins Nichts zu stürzen.

Wenn Geschichte zum Selfie-Spot wird

Was einst Teil des Atlantikwalls war, hat sich in den letzten Jahren zu einer kuriosen Attraktion verwandelt. Jugendliche, Touristen, Influencer – sie alle suchen den Nervenkitzel, posieren auf dem bröckelnden Bauwerk und posten ihre Bilder anschließend in die sozialen Medien. Je waghalsiger die Pose, desto mehr Klicks. Dass dabei jederzeit der Boden unter den Füßen nachgeben könnte, verdrängen viele.

Die Szenerie wirkt wie ein Symbol unserer Zeit: Geschichte, Natur und digitale Selbstdarstellung prallen an einem einzigen Ort aufeinander.

Die unsichtbare Gefahr: Erosion

Die Steilküsten der Côte d’Opale sind keine Granitmauern, sondern empfindliche Gebilde aus Kreide und Mergel. Sie bröckeln, weichen zurück, verlieren jedes Jahr Zentimeter an die Nordsee. Wer glaubt, der Boden sei fest, irrt. Schon kleine Risse im Untergrund können eine Kettenreaktion auslösen.

Das jüngste Beispiel aus der Normandie, wo im August 2025 ein Stück Küste plötzlich ins Meer krachte, zeigt, wie unberechenbar diese Naturgewalten sind. Niemand kann sagen, ob der Wissant-Bunker noch Monate oder nur Tage überlebt. Ein falscher Schritt, ein Foto zu nah am Rand – und das Abenteuer wird lebensgefährlich.

Die lokale Politik schlägt Alarm. Pierre-Édouard Davies, Bürgermeister von Wissant, fordert entschiedenere Maßnahmen: Gefährliche Bunker sollen zugemauert oder gesperrt werden, um Unfälle zu verhindern. Schilder mit Warnhinweisen stehen längst, doch sie scheinen kaum Wirkung zu zeigen.

Die Behörden bewegen sich auf einem schmalen Grat: Einerseits wollen sie die Geschichte bewahren, andererseits die Menschen schützen. Zwischen Denkmalschutz und Lebensgefahr liegen oft nur ein paar Zentimeter.

Das Selfie als Risiko-Symbol

Warum riskieren Menschen für ein Foto ihr Leben? Die Antwort ist vielschichtig. Einerseits lockt die Aussicht – Meer, Himmel, Beton und Abgrund ergeben eine dramatische Kulisse. Andererseits erzeugt die Logik der sozialen Medien Druck: Wer spektakulär postet, bekommt Reichweite, Aufmerksamkeit, vielleicht ein bisschen Ruhm.

Doch die Konsequenzen sind real. Ein Sturz wäre kein digitales Abenteuer, sondern ein tragischer Unfall. Es bleibt die Frage: Lohnt sich ein Selfie mehr als die eigene Sicherheit?

Mehr als ein lokales Problem

Der Fall von Wissant ist kein Einzelfall. Überall in Europa werden verlassene Militäranlagen, alte Industriegebäude oder Naturformationen zu Abenteuerspielplätzen für Adrenalinjunkies. Der Trend ist symptomatisch für eine Gesellschaft, in der Risiko oft als Teil der Inszenierung verstanden wird.

Gleichzeitig wirft er eine größere Frage auf: Wie gehen wir mit den Spuren unserer Geschichte um, wenn sie durch Naturgewalten bedroht sind? Bewahren wir sie um jeden Preis – oder überlassen wir sie dem Meer, das sich die schmalen Küstenstriche zurückholt?

Zwischen Vergangenheit und Zukunft

Der Bunker von Wissant ist ein Relikt, ein Mahnmal, ein stiller Zeuge vergangener Zeiten. Doch seine Tage sind gezählt. Vielleicht stürzt er morgen ins Meer, vielleicht überlebt er noch eine Saison.

Was bleibt, ist die Mahnung: Geschichte ist fragil, Natur unberechenbar, und menschliche Leichtsinnigkeit macht beides gefährlich. Wer dort oben für ein Foto posiert, spielt wortwörtlich mit dem Abgrund.

Autor: Andreas M. B.

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