Tag & Nacht


Die Lichterketten funkeln, der Duft von Glühwein liegt in der Luft, und aus den Lautsprechern tönt leise „O Tannenbaum“ – eigentlich ein Wintertraum. Doch dieser Traum bekommt zunehmend Risse. In der Adventszeit wird das Elsass, mit seiner Mischung aus deutscher Gründlichkeit und französischem Esprit, zu einem der meistbesuchten Weihnachtsziele Europas. Doch was lange Zeit als Geheimtipp galt, droht nun, an seinem eigenen Erfolg zu ersticken.

Strasbourg – eine Hauptstadt im Dauerandrang

3,4 Millionen Menschen strömten in der letzten Saison durch die festlich geschmückten Gassen der Straßburger Innenstadt. Das ist fast das 30-Fache der Einwohnerzahl der Stadt. Wer zur falschen Uhrzeit kommt, erlebt kein gemütliches Bummeln mehr, sondern ein Gedränge wie zur Rushhour in der Pariser Métro. Ein Glühwein wird zur Geduldsprobe, das Foto vorm Christbaum zur Herausforderung – weil man ständig jemandem im Bild steht.

In kleineren Städten wie Riquewihr oder Kaysersberg sieht die Lage nicht besser aus. Im Gegenteil: Riquewihr mit seinen gut 1.000 Einwohnern empfängt bis zu 450.000 Besucher. Das sind Verhältnisse, die man eher von Großevents wie dem Oktoberfest kennt – nur ohne den organisatorischen Apparat dahinter.

Einheimische zwischen Stolz und Frust

Viele Elsässer sind stolz auf ihre Traditionen, das Kunsthandwerk, die Holzbuden, das einzigartige Flair. Doch immer mehr von ihnen erleben die Adventszeit nicht als besinnlich, sondern als zermürbend. Parkplätze? Fehlanzeige. Einkäufe im Zentrum? Kaum machbar. Und wenn man mal eben mit dem Kinderwagen durch die Gassen will – viel Glück dabei.

„Früher sind wir nach der Arbeit über den Markt geschlendert, jetzt meiden wir ihn wie die Pest“, sagt ein Rentner aus Colmar. Ein bisschen übertrieben? Vielleicht. Aber dahinter steckt eine echte Frustration. Die Märkte – einst für die Gemeinschaft – wirken zunehmend wie ein reines Touristenprodukt.

Zwischen Magie und Massentourismus

Wie konnte es so weit kommen?

Die Popularität der elsässischen Märkte explodierte mit dem Aufstieg des Billigflugverkehrs, der Sehnsucht nach „echtem Weihnachtsgefühl“ und der Macht von Instagram. Die Bilder von Fachwerkhäusern mit Schneemützen, liebevoll dekorierten Ständen und funkelnden Laternen gingen viral. Und wer will schon bei solchen Bildern nicht sofort die Koffer packen?

Doch die Realität vor Ort sieht oft anders aus: Kilometerlange Staus vor den Dörfern. Reisegruppen, die sich wie eine Welle durch enge Gassen schieben. Und das alles bei 5 Grad und Nieselregen. Der Zauber? Für viele verblasst er spätestens in der Schlange an der Bratwurstbude.

Was tun? Erste Schritte in Richtung Entlastung

Die Kritik ist angekommen. Städte und Gemeinden arbeiten an Lösungen – mit unterschiedlichem Erfolg.

In Straßburg wurden die Märkte auf mehrere Plätze verteilt, um die Menschenmassen zu entzerren. In Colmar gibt es inzwischen eine Art Crowd-Management-System mit Besucherampeln. Und in Kaysersberg wurde schlicht die Zahl der Buden reduziert.

Das ist ein Anfang. Aber reicht das?

Einige Initiativen setzen auf bewussteren Tourismus. Hotels bieten längere Aufenthalte mit Ausflügen in abgelegene Regionen an. Lokale Produzenten werben mit Qualität statt Quantität. Und Gemeinden empfehlen bewusst den Besuch unter der Woche – statt sich am Wochenende ins Getümmel zu stürzen.

Das eigentliche Problem: Sehnsucht trifft auf Kommerz

Warum sind diese Märkte überhaupt so beliebt?

Die Antwort liegt tief im Zeitgeist verwurzelt. In einer Welt, die sich immer schneller dreht, suchen Menschen nach Ruhe, nach „echten“ Momenten. Weihnachtsmärkte suggerieren genau das: Authentizität, Gemeinschaft, Wärme.

Doch je größer der Andrang, desto weiter entfernt man sich von diesen Idealen. Wo einst Nachbarn miteinander plauderten, kämpfen heute Reiseleiter mit ihren Gruppen um Orientierung. Die Holzbuden ähneln sich, das Angebot wird austauschbar. Der Zauber wirkt wie ein Bühnenbild – schön, aber hohl.

Wie könnte ein „neues“ Weihnachtsmarkterlebnis aussehen?

Einfach mal träumen: Märkte, die bewusst auf Masse verzichten. Stände, die lokales Handwerk in den Vordergrund rücken – ohne Plastik-Ramsch made in China. Besucher, die sich Zeit nehmen. Und Einheimische, die nicht fliehen müssen, um durchzuatmen.

Utopie? Vielleicht. Aber auch ein realistisches Ziel – wenn Politik, Tourismusbranche und Besucher gemeinsam an einem Strang ziehen.

Denn die Lösung liegt nicht allein im Verbieten, sondern im Umdenken. Man kann die Märkte entzerren, kann neue Formate entwickeln, kann andere Orte ins Licht rücken. Man muss nur wollen.

Zurück zur Essenz

Wer schon einmal in einem kleinen elsässischen Dorf an einem ruhigen Montagabend über den Weihnachtsmarkt geschlendert ist, weiß, dass der Zauber noch da ist. Wenn Schneeflocken lautlos auf die Dächer fallen, die Gläser klirren und der Standbetreiber einen mit Namen begrüßt – dann fühlt sich Weihnachten plötzlich wieder echt an.

Wollen wir dieses Gefühl bewahren? Dann ist jetzt der Moment, neue Wege zu gehen – mit Respekt, Rücksicht und einer guten Portion gesundem Menschenverstand.

Denn die Märkte haben ihre Seele nicht verloren. Sie wurde nur unter dem Gewicht der Busse, Kameras und Kommerz ein bisschen plattgedrückt.

C. Hatty

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