Tag & Nacht

Jedes Jahr am 29. November markiert der Welttag der Solidarität mit dem palästinensischen Volk eine Gelegenheit, über die Situation im Nahen Osten nachzudenken und Positionen zu beziehen. Doch 2024 ist anders. Der Konflikt zwischen Israel und der Hamas hat eine neue Eskalationsstufe erreicht, und die Debatte darüber ist in Europa – vor allem in Deutschland und Frankreich – von tiefen Widersprüchen geprägt.

Eine globale Perspektive auf Solidarität

Solidarität bedeutet mehr als bloßes Mitgefühl. Es geht um konkrete Handlungen, die die Lebensrealität der Menschen verbessern könnten. Doch was bedeutet Solidarität, wenn die Gewaltspirale immer neue Opfer fordert? Für Palästinenserinnen und Palästinenser ist die Realität geprägt von einem täglichen Kampf ums Überleben – in Gaza, im Westjordanland und in der Diaspora. Der Welttag erinnert daran, dass die Rechte der Palästinenser*innen auf Selbstbestimmung und ein eigenes Staatsgebiet weiterhin ungelöst sind.

Gerade jetzt, wo die militärische Eskalation in Gaza nicht nur Kämpfer, sondern vor allem Zivilist*innen trifft, wird deutlich, wie brüchig die Hoffnung auf Frieden ist. Die Bilder von zerstörten Krankenhäusern, getöteten Kindern und obdachlosen Familien aus Gaza werden weltweit diskutiert. Gleichzeitig steht auch Israel unter einem existenziellen Druck, seine Bevölkerung vor den Angriffen der Hamas zu schützen. Diese Doppelfrage nach Menschenrechten und Sicherheit ist der Kern der aktuellen Diskussion – und sie entzweit die politische Debatte.

Frankreich und Deutschland: Zwei Länder, zwei Diskurse

Ein Blick auf die europäische Ebene zeigt, wie unterschiedlich Frankreich und Deutschland den Konflikt betrachten. Frankreich, mit seiner großen muslimischen Bevölkerung und einer langen Geschichte kolonialer Konflikte, reagiert mit einer Mischung aus Solidaritätsbekundungen für die Palästinenser und einem strikten Kurs gegen jede Form von Antisemitismus. Kundgebungen für Palästina sind oft erlaubt, allerdings begleitet von einem massiven Sicherheitsaufgebot, um Spannungen zu minimieren.

In Deutschland hingegen ist die Debatte tief verwurzelt in der historischen Verantwortung gegenüber Israel. Seit dem 7. Oktober 2023, dem Tag der tödlichen Hamas-Angriffe, hat sich die Solidarität mit Israel nochmals verstärkt. Demonstrationen, die sich für die Rechte der Palästinenser einsetzen, werden oft argwöhnisch beobachtet – nicht selten, weil die Sorge besteht, dass solche Kundgebungen in antisemitische Tiraden umschlagen könnten. Doch schürt diese strikte Haltung nicht auch das Gefühl, dass berechtigte Kritik an der israelischen Politik tabuisiert wird?

Hier zeigt sich eine Ironie: Während in Frankreich die Solidarität mit Palästina offener gelebt wird, erleben muslimische Gemeinschaften dort oft staatliche Repression. In Deutschland hingegen bleibt der Diskurs über Palästina stark reglementiert, während der Staat um jeden Preis antisemitische Eskalationen verhindern möchte.

Krieg, Propaganda und die schwierige Suche nach der Wahrheit

Ein weiteres Problem ist die verzerrte Wahrnehmung, die beide Seiten des Konflikts durch gezielte Propaganda fördern. In westlichen Medien dominiert oft die Perspektive Israels, was auch an der engen geopolitischen Partnerschaft mit den USA und Europa liegt. Zugleich verbreiten pro-palästinensische Stimmen auf sozialen Plattformen Bilder und Geschichten, die die schockierende Realität in Gaza zeigen – oft ungefiltert und emotional aufgeladen.

Aber wer hat die moralische Deutungshoheit? Ist es vertretbar, israelische Bombardierungen zu kritisieren, wenn die Hamas gleichzeitig wahllos Raketen auf zivile Gebiete abfeuert? Oder umgekehrt: Können wir uns in Europa damit abfinden, dass Tausende Palästinenser*innen in Gaza unter Belagerung und ständigen Angriffen leiden? Die Antwort auf diese Fragen ist nicht einfach – und doch verlangen sie Antworten.

Ein Plädoyer für Differenzierung

Die europäische Debatte braucht dringend mehr Differenzierung. Ja, Israel hat das Recht, seine Bevölkerung zu schützen. Und ja, Palästinenser*innen haben ein Recht auf Würde, Sicherheit und ein Leben in Freiheit. Wer das eine betont, ohne das andere anzuerkennen, trägt nicht zur Lösung des Konflikts bei – sondern gießt Öl ins Feuer.

Deutschland und Frankreich könnten gemeinsam eine konstruktive Rolle einnehmen, indem sie die Bedeutung des Völkerrechts in den Vordergrund stellen. Der Schutz von Zivilisten, humanitäre Hilfsmaßnahmen und der Wiederaufbau nach der Zerstörung – all das müsste Priorität haben. Warum also nicht die Kräfte bündeln und als EU entschlossen auf eine Waffenruhe drängen?

Was bleibt vom Welttag?

Der Welttag der Solidarität mit dem palästinensischen Volk sollte mehr sein als Symbolpolitik. Er könnte ein Moment der Reflexion sein, eine Chance, die europäische Außenpolitik neu auszurichten. Doch solange der Diskurs zwischen Solidarität und Sicherheitsinteressen gefangen bleibt, wird die Spirale der Gewalt kaum durchbrochen werden.

Die große Frage ist: Wie können wir ein Zeichen setzen, das nicht nur Solidarität bekundet, sondern echten Wandel bewirkt? Klar ist, dass Europa nicht länger zuschauen darf. Nur durch eine gerechtere und mutigere Außenpolitik könnte dieser Tag eines Tages das erreichen, was er verspricht – Hoffnung für ein geschundenes Volk.


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