Tag & Nacht


Ein paar Klicks in einer Textverarbeitung, ein unscheinbares Menü namens Schriftart, ein kurzer Moment der Routine. Und plötzlich steckt man mitten in einem Kulturkampf. Klingt absurd? Willkommen in den Vereinigten Staaten des Jahres 2025, wo selbst Buchstaben Haltung zeigen sollen.

Es geht um „Calibri“. Eine Schrift, die viele von uns seit Jahren nutzen, ohne groß darüber nachzudenken. Klar, sachlich, modern. Für manche einfach nur praktisch. Für andere offenbar ein ideologisches Minenfeld.


Die Nachricht wirkt auf den ersten Blick wie eine Satire, irgendwo zwischen „Postillon“ und später Abendrunde. Doch sie ist ernst gemeint. Die US Regierung unter Donald Trump hat ihren Diplomaten untersagt, weiterhin in Calibri zu schreiben. Der Grund: zu inklusiv, zu weich, zu sehr Symbol einer politischen Linie, die man loswerden will.

Man reibt sich die Augen. Eine Schriftart als politischer Gegner?




Ein Schritt zurück.

Calibri war seit 2023 die Standardschrift in offiziellen Dokumenten der US Bundesregierung. Eingeführt unter Präsident Joe Biden, eingebettet in Programme für Diversität, Zugänglichkeit und Barrierefreiheit. Schlichte Buchstaben, klare Formen, gut lesbar auch für Menschen mit Seh oder Leseschwierigkeiten. Keine Serifen, keine Schnörkel, kein Firlefanz.

Einfach Text.

Oder eben nicht mehr.


Denn mit dem Machtwechsel im Weißen Haus kam auch ein ästhetischer Kurswechsel. Der neue Außenminister Marco Rubio ordnete an, Calibri aus der diplomatischen Kommunikation zu verbannen. Stattdessen soll wieder „Times New Roman“ verwendet werden. Eine Schrift mit Geschichte, mit Gewicht, mit diesem Hauch von Amt und Aktenordner, der an dunkle Holztische und dicke Mappen erinnert.

Rubio spricht von Professionalität. Von Ernsthaftigkeit. Von einem Stil, der Respekt einfordert.

Und zwischen den Zeilen liest man: von Abgrenzung.


Hier geht es längst nicht mehr um Typografie.

Hier geht es um Symbole.


Amerika steckt derzeit in einer kulturellen Dauerdebatte. Republikaner gegen Demokraten. Progressiv gegen konservativ. Stadt gegen Land. Woke gegen antiwoke. Alles wird politisch aufgeladen. Serien, Schulbücher, Sportwettkämpfe, sogar Farben.

Warum also nicht auch Buchstaben?

Wer Calibri nutzt, so der unausgesprochene Vorwurf, steht für eine Politik, die Vielfalt betont, Unterschiede sichtbar macht, Barrieren abbaut. Für viele Konservative ein rotes Tuch. Oder besser gesagt: ein serifenloses.


Dabei wirkt der Gedanke fast schon ironisch. Jahrzehntelang galt Times New Roman als neutral, als Standard, als das Maß der Dinge. Doch auch Neutralität ist ein Produkt ihrer Zeit. Die Schrift entstand in den 1930er Jahren, entworfen für eine britische Zeitung, optimiert für Druck, nicht für Bildschirm, nicht für digitale Lesbarkeit.

Calibri dagegen ist ein Kind des Computerzeitalters. Entwickelt für Bildschirme, für E Mails, für PDFs, für das schnelle Lesen zwischendurch. Und ja, auch für Menschen, deren Augen nicht mehr alles mitmachen.

Ist Rückkehr wirklich Fortschritt?


Die Entscheidung löste online einen Sturm aus. Auf Plattformen wie TikTok diskutieren Tausende über Sinn und Unsinn der Maßnahme. Eine besonders viel beachtete Stimme kam von Savannah von „YourLocalLibrary“, die mit trockenem Humor erklärte, warum Schriftarten niemanden indoktrinieren, wohl aber ausschließen können.

@yourlocallibrary

I know this is old news at this point but I have not been able to stop thinking about it. Technically comic sans is a more accessible font. At least they’re still using the homestuck font for official memos between countries or whatever #politics #fonts #marcorubio

♬ Club Penguin Pizza Parlor – Cozy Penguin

Ihre Videos gingen viral. Kommentare prasselten ein. Von Kopfschütteln bis Gelächter war alles dabei.

Manche schrieben: „Was kommt als Nächstes? Politische Absatzformate?“ Andere: „Ich wusste gar nicht, dass mein Lebenslauf linksgrün versifft ist.“

Ganz ehrlich – ein bisschen schräg ist das schon.


Doch hinter dem Spott steckt eine ernste Frage.

Wie weit reicht Politik in unseren Alltag?


Diplomatische Texte sollen sachlich, präzise, verbindlich sein. Sie transportieren Botschaften zwischen Staaten, zwischen Kulturen, zwischen Machtzentren. Die Schriftart ist dabei Mittel zum Zweck. Sie soll den Inhalt tragen, nicht überdecken.

Wenn aber genau dieses Mittel zum Symbol erklärt wird, verschiebt sich der Fokus. Dann wird Form wichtiger als Inhalt. Dann zählt Haltung mehr als Aussage.

Ein gefährlicher Trend.


Befürworter der Entscheidung argumentieren, dass staatliche Kommunikation Klarheit und Autorität ausstrahlen müsse. Times New Roman wirke seriöser, traditioneller, staatstragender. Calibri hingegen zu locker, zu modern, zu nah am Büroalltag.

Doch ist Seriosität wirklich eine Frage der Schrift?

Oder ist das bloß Nostalgie mit politischem Beigeschmack?


Ein ehemaliger Diplomat erzählte einmal, halb im Scherz, halb im Ernst: „Wenn ein Brief schlecht formuliert ist, rettet ihn keine Schrift der Welt.“ Und da ist was dran. Worte tragen Gewicht. Argumente schaffen Wirkung. Buchstaben sind nur das Gefäß.

Oder etwa doch nicht?


Interessant ist, dass ähnliche Debatten auch anderswo aufflammen. In Schulen, in Verwaltungen, in Unternehmen. Über gendergerechte Sprache. Über einfache Sprache. Über barrierefreie Kommunikation. Über das, was man sagt – und wie.

Die Schriftfrage passt da nahtlos rein. Sie ist greifbar, sichtbar, leicht zu regulieren. Ein Erlass genügt, und schon sieht der Text anders aus.

Politik zum Anfassen, im wahrsten Sinne des Wortes.


Kritiker werfen der Trump Administration vor, Nebenschauplätze zu eröffnen, um von größeren Themen abzulenken. Wirtschaft, Außenpolitik, soziale Spannungen – all das verlangt Antworten. Stattdessen diskutiert man über Schriftarten.

Zugegeben, das wirkt kleinlich.

Aber Symbole sind mächtig. Das wussten schon die Römer. Fahnen, Farben, Rituale – sie schaffen Identität. Heute kommen Fonts dazu.

Willkommen im 21. Jahrhundert.


Man darf auch nicht vergessen: Für Menschen mit Legasthenie oder Sehschwächen ist die Wahl der Schrift kein Luxus. Sie entscheidet darüber, ob Texte zugänglich sind oder nicht. Calibri wurde genau deshalb geschätzt.

Times New Roman mit seinen feinen Serifen und enger Laufweite gilt vielen als schwerer lesbar. Besonders auf Bildschirmen.

Ist das egal?

Oder opfert man hier Inklusion auf dem Altar der Ideologie?


Die offizielle Linie lautet natürlich anders. Niemand wolle jemanden ausschließen. Es gehe nur um Stil. Um Einheitlichkeit. Um Tradition.

Doch Tradition ist kein neutraler Raum. Sie schließt immer auch aus, schlicht weil sie auf Vergangenem basiert.

Und genau da beißt sich die Katze in den Schwanz.


Ein kurzer Moment der Leichtigkeit sei erlaubt. Ein User schrieb unter einem der viralen Videos: „Ich schreibe jetzt alles in Comic Sans. Rebellion muss Spaß machen.“ Man lacht. Und dann denkt man kurz nach.

Vielleicht liegt darin die eigentliche Tragik dieser Debatte. Dass sie uns dazu bringt, über Dinge zu streiten, die uns früher egal waren. Dass selbst Buchstaben nicht mehr unschuldig sind.

Muss wirklich alles eine Frontlinie sein?


Die USA dienen hier wie so oft als Vergrößerungsglas. Was dort passiert, schwappt früher oder später nach Europa. Auch hier diskutieren Verwaltungen über Sprache, Form, Ton. Auch hier ringen Gesellschaften um Identität.

Die Schriftfrage mag banal wirken. Doch sie erzählt eine größere Geschichte. Von Macht und Deutungshoheit. Von dem Wunsch, Ordnung zu schaffen in einer unübersichtlichen Welt.

Und von der Angst vor Veränderung.


Am Ende bleibt die Erkenntnis, dass Kulturkämpfe selten bei großen Themen beginnen. Sie schleichen sich ein. In Klassenzimmer, in Büros, in Textverarbeitungen. Leise, fast unscheinbar.

Bis jemand sagt: Diese Buchstaben gefallen mir nicht.


Vielleicht sollten wir uns öfter fragen, was wirklich zählt. Die Form oder der Inhalt? Die Tradition oder die Zugänglichkeit? Die Symbolik oder der gesunde Menschenverstand?

Und ganz ehrlich – liest man einen diplomatischen Brief wirklich anders, nur weil die Serifen fehlen?

Die Antwort kennt vermutlich jeder selbst.

Ein Artikel von M. Legrand

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