Ein Grollen, ein Beben – und dann ein tonnenschwerer Regen aus Fels und Staub: Am Samstag, dem 6. September 2025, verwandelte sich der sonst so idyllische Cirque du Fer-à-Cheval in der Haute-Savoie binnen Sekunden in ein Naturtheater der Urgewalten. Nahezu 12.000 Kubikmeter Gestein lösten sich aus rund 1.300 Metern Höhe und donnerten die steile Felswand hinab. Zurück blieb ein riesiger Schutthaufen – und ein spürbarer Hauch von Erleichterung: Niemand kam zu Schaden.
Besonderes Glück hatten die Wanderer. Denn die beliebten Pfade rund um den imposanten Talkessel von Sixt-Fer-à-Cheval blieben von der Gerölllawine verschont. Dennoch war das Ereignis alles andere als harmlos. Ein riesiger Staubpilz schoss in den Himmel, das Grollen war kilometerweit zu hören – und die Szenerie erinnerte mehr an einen Katastrophenfilm als an einen Spätsommertag in den Alpen.
Schnelle Hilfe aus der Luft
Kaum war der Fels zur Ruhe gekommen, rückten die Einsatzkräfte an. Acht Feuerwehrleute und vier Gendarmen durchkämmten das Gebiet – nicht zu Fuß, sondern mit Drohnen und Hubschraubern. Denn bevor jemand vor Ort das Gelände betreten konnte, galt es, die Lage aus sicherer Entfernung zu beurteilen. Bröckelt noch etwas nach? Besteht erneute Gefahr?
Die Antwort kam prompt – und mit ihr eine klare Maßnahme: Der Bürgermeister von Sixt-Fer-à-Cheval zog die Reißleine und sperrte den Zugang zum Fond de la Combe. Ein Verbot mit Ansage. Neue Hinweisschilder wurden aufgestellt, Wanderer gewarnt, Touristen informiert. Kein Risiko, kein Abenteuer – nicht dieses Mal.
Ein Stein ist nie nur ein Stein
Was sich als einzelner Felssturz darstellt, ist womöglich Teil eines größeren Musters. Denn das alpine Gelände zeigt in den letzten Jahren immer häufiger Risse – im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Geologen und Umweltexperten schlagen längst Alarm: Der Klimawandel hinterlässt Spuren im Hochgebirge, die man mit bloßem Auge sehen kann.
Im Fokus steht dabei der Permafrost – jenes unsichtbare Eis, das in großer Höhe tief im Gestein schlummert und alles wie ein natürlicher Mörtel zusammenhält. Taut dieses Eis auf, verliert das Gebirge seinen inneren Halt. Der Berg wird zur Zeitbombe. Und genau das geschieht momentan schneller, als vielen lieb ist.
Der stille Rückzug der Stabilität
Die „Restauration des Terrains en Montagne“ (RTM), eine auf Gebirgssicherung spezialisierte Einrichtung, ist seit Langem in der Region aktiv. Sie misst, überwacht, analysiert – und wird auch diesmal wieder genau hinschauen. Denn selbst wenn die betroffene Felswand nun erst einmal ruhig zu sein scheint: absolute Sicherheit gibt es in den Alpen schon lange nicht mehr.
Die Natur hat ihre eigene Dynamik. Und diese Dynamik scheint in Zeiten steigender Temperaturen an Fahrt aufzunehmen. Immer häufiger brechen Gesteinsbrocken aus eigentlich stabil geglaubten Wänden, immer öfter geraten ganze Felshänge ins Rutschen. Was jahrhundertelang unbeweglich schien, ist heute in Bewegung geraten.
Was heißt das für die Wanderer?
Wer in den Bergen unterwegs ist, weiß um gewisse Risiken – doch was früher seltene Ausnahmen waren, scheint inzwischen Teil der neuen Normalität. Klar: Die Wege sind meist sicher, die Warnsysteme funktionieren, und die Behörden reagieren rasch. Aber ein mulmiges Gefühl bleibt.
Was also tun? Die Antwort liegt zwischen Respekt und Realismus. Wer gerne wandert, soll das weiterhin tun – aber nicht mit Scheuklappen. Auf Warnschilder achten, gesperrte Wege meiden, lokale Hinweise ernst nehmen. Denn der schönste Ausblick nützt wenig, wenn er vom nächsten Steinschlag überschattet wird.
Ein Vorfall, der bleibt
Der Felssturz im Cirque du Fer-à-Cheval war spektakulär – aber er war wohl kein Einzelfall. Vielmehr reiht er sich ein in eine beunruhigende Serie von Bergstürzen, Hangrutschen und Erdrutschen in den Alpen. Was einst als unerschütterlich galt, wankt. Und mit jedem neuen Vorfall wird klarer: Die Berge verändern sich.
Vielleicht ist es an der Zeit, auch unser Verhältnis zu ihnen zu überdenken. Nicht aus Angst – sondern aus Ehrfurcht. Denn die Alpen sind nicht nur ein Postkartenidyll, sondern auch ein lebendiges, sich wandelndes Ökosystem. Und wer sie wirklich liebt, hört hin, wenn sie sprechen – oder donnern.
Autor: Andreas M. B.
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