Europa steht an einem Wendepunkt. Die demokratische Ordnung, lange Zeit als selbstverständlich angesehen, gerät zunehmend unter Druck – nicht von außen, sondern aus dem Inneren ihrer eigenen Gesellschaften. Autoritäre Populisten gewinnen an Einfluss, indem sie das Vertrauen in Institutionen untergraben, die Öffentlichkeit mit gezielter Desinformation polarisieren und die Grundprinzipien liberaler Demokratien offen in Frage stellen. Was einst Randpositionen waren, wird heute salonfähig – mit weitreichenden Folgen für politische Kultur und institutionelle Stabilität.
Die jüngsten Entwicklungen in mehreren EU-Staaten zeugen von dieser schleichenden Erosion demokratischer Standards. In Österreich hätte fast erstmals seit 1945 ein Kanzler mit rechtsextremer Vergangenheit die Regierung geführt. Die Freiheitliche Partei Österreichs hat es mit einer aggressiv nationalistischen Rhetorik und einer offen EU-kritischen Haltung geschafft, sich als führende Kraft zu etablieren. Die Tatsache, dass eine Koalition mit der konservativen Volkspartei mittlerweile in Österreich als realistische Option gehandelt wird, zeigt, wie sehr sich die politische Tektonik verschoben hat.
Ungarn, lange Zeit ein Paradebeispiel für postkommunistischen Demokratisierungswillen, dient heute als Blaupause für die schrittweise Demontage rechtsstaatlicher Institutionen. Viktor Orbáns Regierung hat über Jahre hinweg ein System geschaffen, das Loyalität über Kompetenz stellt, Medien systematisch gleichschaltet und NGOs delegitimiert, indem ihnen ausländische Einflussnahme unterstellt wird. Der Diskurs über Demokratie wird dabei bewusst verzerrt – nicht selten ins Mythische überhöht, als etwas, das es gegen „fremde Kräfte“ zu verteidigen gelte, während gleichzeitig ihre Substanz ausgehöhlt wird.
Polen erlebte unter der Regierung der PiS-Partei eine ähnliche Entwicklung. Mit der Umgestaltung des Justizwesens und der politischen Einflussnahme auf Richter wurde eine rote Linie überschritten, die zur Destabilisierung des Gewaltenteilungsprinzips führte. Zwar hat der Regierungswechsel im Herbst 2023 neue Hoffnung geweckt, doch der Rückbau autoritärer Strukturen gestaltet sich zäh und konfliktbeladen – vor allem dort, wo das System Loyalitäten fest in Amt und Würden verankert hat.
In Deutschland wiederum erlebt die AfD derzeit einen Höhenflug. In Umfragen liegt sie in mehreren ostdeutschen Bundesländern bereits auf Platz eins. Was einst als Protestpartei gegen die Euro-Rettungspolitik begann, hat sich zu einem Sammelbecken rechtsextremer, verschwörungsideologischer und antidemokratischer Kräfte entwickelt. Ihre Strategien ähneln dabei denen der autoritären Bewegungen in anderen europäischen Ländern: Die Delegitimierung parlamentarischer Verfahren, die bewusste Skandalisierung von Migration und Klimapolitik sowie der Versuch, über Vorfeldorganisationen und Personalplatzierungen langfristigen Einfluss auf staatliche Institutionen zu nehmen.
Allen diesen Bewegungen ist gemein, dass sie sich demokratischer Mittel bedienen, um antidemokratische Ziele zu verfolgen. Sie nutzen das Recht, um es auszuhöhlen. Sie berufen sich auf Mehrheiten, um Minderheiten zu marginalisieren. Und sie missbrauchen das Prinzip der Meinungsfreiheit, um mit gezielter Desinformation gesellschaftliche Gräben zu vertiefen. Gerade in Zeiten sozialer und ökonomischer Unsicherheit – sei es durch Inflation, Migration oder geopolitische Konflikte – gedeihen solche Narrative besonders gut.
Zugleich zeigt sich, dass autoritäre Populisten mehr als nur rhetorisches Talent besitzen. Sie verfolgen langfristige Strategien, denken in Institutionen und Netzwerken, setzen auf kulturelle Hegemonie und auf die schrittweise Umdeutung politischer Begriffe. Demokratie wird nicht mehr als offene, pluralistische und rechtsstaatliche Ordnung verstanden, sondern als Vehikel nationaler Selbstbehauptung gegen imaginierte äußere Bedrohungen. Diese Umdeutung ist nicht nur semantisch gefährlich – sie verändert das demokratische Selbstverständnis einer Gesellschaft von Grund auf.
Allerdings gibt es auch Zeichen der Gegenbewegung. In vielen europäischen Städten demonstrieren derzeit Hunderttausende gegen Rechtsextremismus und autoritäre Tendenzen. Diese Proteste zeigen, dass es ein wachsendes Bewusstsein für die Bedrohung gibt – und eine Bereitschaft, das demokratische Gemeinwesen aktiv zu verteidigen. Doch Mahnwachen und Appelle allein werden nicht genügen. Was es braucht, ist eine strukturelle Resilienz: unabhängige Gerichte, plurale Medien, Bildungssysteme, die kritisches Denken fördern – und vor allem eine politische Kultur, die sich nicht von Radikalisierung treiben lässt, sondern ihr entschieden entgegentritt.
Die Demokratie stirbt nicht über Nacht. Sie wird zersetzt, entleert, banalisiert – bis sie schließlich nur noch als Hülle existiert. Wer diesen Prozess erkennen will, muss hinschauen, zuhören und verstehen, wie autoritäre Populisten funktionieren. Und dann handeln – bevor es zu spät ist.
P.T.
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