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Kaum ein anderes europäisches Land wird so sehr mit dem Phänomen des Streiks assoziiert wie Frankreich. Bahnhöfe, die blockiert werden, Müllberge in den Straßen, Protestmärsche durch Paris – solche Bilder prägen die öffentliche Wahrnehmung weit über die Landesgrenzen hinaus. Doch was hat es mit dieser vermeintlich französischen Spezialität auf sich? Ist die „Grève“ ein Mythos, gespeist aus historischen Erzählungen, oder tatsächlich Ausdruck einer einzigartigen politischen Kultur?

Schon ein Blick in die Geschichte zeigt, wie tief der Arbeitskampf in Frankreich verwurzelt ist. Mit dem Gesetz Ollivier von 1864 fiel das generelle Streikverbot – ein Meilenstein, der den Weg für kollektive Arbeitsniederlegungen öffnete. Die großen sozialen Mobilisierungen unter dem Front Populaire 1936 oder die Revolten des Mai 1968 sind bis heute fest im kollektiven Gedächtnis verankert. Sie gelten als Wendepunkte, nicht nur sozialpolitisch – etwa durch die Einführung der 40-Stunden-Woche und bezahlten Urlaubs –, sondern auch symbolisch: Der Streik wurde zu einem politischen Ausdrucksmittel, das über rein tarifliche Fragen hinausgeht.

Zwischen Statistik und Symbolik

Zahlen bestätigen diesen Eindruck. In den Jahren 2010 bis 2019 verzeichnete Frankreich durchschnittlich 114 Streiktage pro 1.000 Beschäftigte – ein europäischer Spitzenwert. Deutschland lag bei rund 18, die Schweiz gar bei kaum messbaren Werten. Solche Vergleiche sind allerdings mit Vorsicht zu interpretieren: Unterschiedliche Erhebungsmethoden, ein hoher Anteil öffentlicher Beschäftigter und sektorale Besonderheiten verzerren das Bild. Doch die Tendenz ist eindeutig: Der Streik ist in Frankreich präsenter, sichtbarer und wirksamer als in vielen anderen westlichen Demokratien.

Vier Gründe für die französische Streikkultur

Diese Eigenheit hat mehrere Ursachen. Erstens ist da eine politische Kultur, die Protest nicht nur duldet, sondern ihn als demokratische Praxis anerkennt. Die Französische Revolution hat das Recht auf Widerstand tief in der politischen DNA der Nation verankert. Zweitens bietet das französische Recht dem Streikenden eine starke Rückendeckung: Das Streikrecht ist verfassungsrechtlich geschützt – ein Umstand, der im internationalen Vergleich eher die Ausnahme ist.

Drittens trifft jede Reform in Bereichen wie Rente, Gesundheit oder öffentlichem Dienst auf ein besonders feinfühliges soziales Nervensystem. Frankreichs ausgebauter Sozialstaat ist für viele Bürger mehr als eine staatliche Dienstleistung – er ist Ausdruck gesellschaftlicher Solidarität und Errungenschaft früherer Kämpfe. Und viertens sorgt die Medienwirkung für Verstärkung: Sobald Züge stillstehen, Schulklassen ausfallen oder Krankenhäuser den Betrieb einschränken, gerät das Land in den Fokus der Öffentlichkeit – im Inland wie im Ausland.

Kein französisches Monopol

Gleichwohl ist die Vorstellung, Frankreich sei das einzige Land, in dem gestreikt wird, ein Trugbild. In Skandinavien etwa sind die Gewerkschaften mitunter sogar einflussreicher, Konflikte werden dort jedoch häufig vor dem Arbeitskampf durch sozialpartnerschaftliche Mechanismen entschärft. Auch in Großbritannien oder den USA kommt es regelmäßig zu spektakulären Arbeitskämpfen – etwa im Transport- oder Logistiksektor –, allerdings mit anderer Dramaturgie und medialer Resonanz.

Auch in Frankreich selbst hat sich die Streikkultur gewandelt. Während klassische, lang andauernde Streiks im öffentlichen Dienst seltener geworden sind, nimmt die Vielfalt der Protestformen zu. Symbolische Blockaden, punktuelle Aktionen, digitale Mobilisierung – die Werkzeuge des Arbeitskampfs haben sich erweitert. Nicht immer mit durchschlagendem Erfolg: Der Aufruf zu einem Generalstreik unter dem Slogan „Bloquons tout“ am 10. September 2025 blieb hinter den Erwartungen zurück. Andere Beispiele wie die landesweite Hebammenbewegung 2013/14 zeigten hingegen, dass auch gezielte, berufsbezogene Streiks große politische Wirkung entfalten können.

Streik als kollektives Ausdrucksmittel

Unabhängig von der konkreten Form bleibt die Grève in Frankreich ein Ausdruck kollektiver Haltung – ein Ritual, das politische Partizipation sichtbar macht. In Ländern wie Deutschland oder den Niederlanden gilt der Streik vielfach als letztes Mittel. In Frankreich hingegen wird er nicht nur akzeptiert, sondern als legitimes Werkzeug im demokratischen Prozess anerkannt. Das unterscheidet die französische Streikkultur von vielen ihrer europäischen Pendants – weniger in der Existenz des Arbeitskampfs, als in seiner Häufigkeit, Symbolkraft und gesellschaftlichen Akzeptanz.

Der französische Streik ist also kein Mythos – aber auch keine singuläre Erscheinung. Vielmehr ist er Teil einer politischen Tradition, die auf Mobilisierung, Sichtbarkeit und Druck setzt. Er steht für ein Demokratieverständnis, das nicht allein auf Institutionen baut, sondern auf Beteiligung von unten. In einer Zeit, in der viele Demokratien unter Beteiligungsschwund leiden, mag das überkommen wirken – oder gerade inspirierend.

Autor: Andreas M. Brucker

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