Tag & Nacht


Der 12. Dezember 2015 liegt ein Jahrzehnt zurück. Damals, in Paris, einigte sich die Welt auf ein Abkommen, das als historischer Wendepunkt gefeiert wurde. 195 Staaten verpflichteten sich, die Erderwärmung möglichst auf 1,5 Grad, zumindest aber unter zwei Grad zu halten. Heute, zehn Jahre später, zeigt sich: Der große Absturz wurde nur unwesentlich gebremst, das Klima gerät weiter aus den Fugen. Und in Frankreich lassen sich die Folgen längst nicht mehr in Diagrammen erklären, sondern im Alltag der Menschen beobachten – im vertrockneten Flussbett, im verbrannten Weinberg, im nächtlichen Blick auf einen reißenden Gebirgsbach.

Vérargues, ein kleiner Ort im Hérault, trägt seit dem Sommer 2019 einen zweifelhaften Titel: heißester Ort Frankreichs. 46 Grad, gemessen an einem Tag Ende Juni. An diesem Dezembermorgen 2025 zeigt das Thermometer neun Grad, doch Chantal, 76 Jahre alt, erinnert sich, als sei es gestern gewesen. Die Dorffeste wurden abgesagt, die Luft blieb stehen, das Atmen fiel schwer. Ein Sommer, der sich in die Körper der Menschen eingeschrieben hat. Seitdem wartet sie jedes Jahr mit einem mulmigen Gefühl auf den Juli. Hitze, sagt sie, werde mit dem Alter immer unerträglicher.

Was für die einen eine Belastung bedeutet, wird für andere zur existenziellen Bedrohung. In den Weinbergen rund um Lunel erzählt Frédéric Saint-Jean von jenem Tag, an dem die Sonne seine Ernte in wenigen Stunden ruinierte. Die Trauben wirkten verbrannt, als habe jemand mit einem Schweißbrenner darübergehalten. Achtzig Prozent Verlust, ein Schaden von mehreren zehntausend Euro. Sein Sohn soll den Betrieb übernehmen, doch der Vater zögert. Manchmal klingt es, als schicke man die nächste Generation sehenden Auges in ein unkalkulierbares Risiko.

Die Kommunen reagieren. Müssen reagieren. In Entre-Vignes entstehen Neubauten, die Hitze nicht mehr nur aussperren, sondern ihr begegnen: mit begrünten Flächen, Kalkstein, auskragenden Dächern, automatisch öffnenden Fenstern für nächtliche Abkühlung. Architektur als Schutzschild. Die Planungen orientieren sich an Temperaturen, die früher undenkbar schienen. 50 Grad an der Mittelmeerküste, irgendwann zur Mitte des Jahrhunderts – eine Zahl, die nicht mehr nach Science-Fiction klingt.

Während die Hitze im Süden zur neuen Normalität wird, zeigt sich ein anderes Gesicht des Klimawandels im Wassermangel. In der Aude, genauer in Durban-Corbières, rollen täglich Tanklaster an. Vier, manchmal fünf. Sie füllen die kommunalen Reservoirs mit Wasser, ohne das der Ort schlicht trocken läge. Der Bürgermeister spricht von einer dramatischen Schieflage: doppelt so viel Verbrauch wie natürlicher Zufluss, Quellen erschöpft, Flüsse seit Jahren ohne Wasser. Regenradar schauen gehört zum Alltag, doch die mediterranen Wolken ziehen oft vorbei, ohne einen Tropfen zu hinterlassen.

Die Folgen reichen bis in die Wohnungen. Stundenlange Wasserabschaltungen gehören zum Sommer. Chantal – eine andere Chantal, diesmal aus den Corbières – hat vorgesorgt: Campingtoilette, Reservekanister, eine sparsame Dusche. Improvisation als neue Normalität. Andere denken weiter. Mathilde, Mutter von zwei Kindern, fragt sich leise, ob man hier langfristig bleiben kann. Kein Wasser, sagt sie, bedeute kein Leben. Und dieser Satz bleibt hängen.

Gleichzeitig zeigt sich das andere Extrem des Klimas: zu viel Wasser, zur falschen Zeit, am falschen Ort. In den Alpes-Maritimes hat die Tempête Alex im Oktober 2020 die Täler der Vésubie verwüstet. Zehn Tote, Häuser fortgerissen, Brücken zerstört. Fünf Jahre später sitzt Michelle in ihrer neuen Wohnung in Saint-Martin-Vésubie und blickt auf den Boréon, jenen Fluss, der damals zur tödlichen Lawine wurde. Wenn es regnet, weicht die Ruhe einer ständigen Wachsamkeit. Angst hat sich eingenistet, bei ihr und bei vielen anderen.

Die Landschaft wurde neu gezeichnet. Flussbetten verbreitert, Bauverbote verhängt, Hunderttausende Felsbrocken bewegt, um das Dorf zu sichern. Der Bürgermeister spricht von einem Kraftakt, der noch Jahre dauern wird. Er selbst tritt nicht mehr an. Zu erschöpfend war dieses Mandat, zu nah die Katastrophe.

All diese Geschichten fügen sich zu einem Bild, das nüchtern und beunruhigend zugleich wirkt. 2024 war weltweit das erste Jahr, in dem die Durchschnittstemperatur über der Marke von 1,5 Grad lag. In Frankreich zählt Météo-France heute mehr als doppelt so viele Hitzewellentage wie vor 2005. Die Niederschläge nehmen an Intensität zu, die Böden trocknen länger aus, die Nächte bleiben warm, der Schnee zieht sich aus den Bergen zurück. Was früher Ausnahme hieß, nennt man heute Trend.

Und doch wäre es zu einfach, von einem völligen Scheitern zu sprechen. Ohne das Pariser Abkommen, so der breite wissenschaftliche Konsens, steuerte die Welt auf eine Erwärmung von vier Grad zu. Heute liegt die Prognose bei etwa 2,8 Grad bis zum Ende des Jahrhunderts. Noch immer viel zu viel, aber weniger als befürchtet. Erneuerbare Energien wurden billiger, Elektroautos alltäglicher, einige Staaten senkten ihre Emissionen trotz wirtschaftlichen Wachstums. Selbst China nähert sich offenbar seinem Emissionshöhepunkt.

Der Preis dafür bleibt hoch. Jeder Zehntelgrad entscheidet über Korallenriffe, Meeresströmungen, Gletscher, Extremwetter. Zwischen 1,5 und zwei Grad liegt kein abstrakter Unterschied, sondern die Frage, wie lebenswert viele Regionen dieser Erde bleiben. In Vérargues, Durban-Corbières oder Saint-Martin-Vésubie lässt sich diese Debatte nicht mehr vertagen. Sie findet längst statt – im Schatten der Häuser, im leeren Flussbett, im leisen Satz: Wenn kein Wasser mehr da ist, was dann?

Von Andreas M. Brucker

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