Tag & Nacht


Die Szene wirkt vertraut und fremd zugleich. Vertraut, weil Starkregen und über die Ufer tretende Flüsse in Südfrankreich längst kein Ausnahmezustand mehr sind. Fremd, weil ausgerechnet in einem Landstrich, der jahrelang unter gnadenloser Trockenheit litt, nun das Wasser fehlt – zumindest im Glas. In den Pyrénées-Orientales sind zahlreiche Einwohnerinnen und Einwohner derzeit von der Trinkwasserversorgung abgeschnitten. Die heftigen Regenfälle der vergangenen Tage haben das Leitungswasser ungenießbar gemacht. Vier Tage lang schon, erzählen sie, fließt aus dem Hahn braune Brühe.

Am Samstag, dem 27. Dezember, zeigt sich die Natur von ihrer ungestümen Seite. Der Fluss Verdouble, sonst ein eher beschaulicher Begleiter in dieser Landschaft, schiebt sich mit brachialer Kraft durch das Tal bei Tautavel. Das Wasser ist trüb, aufgewühlt, voller Energie. Es trägt Geröll, Äste, alles, was ihm in den Weg kommt. Ein Schauspiel, das man bestaunen kann – wenn man nicht gerade davon betroffen ist.

Thibaud Saos, ein Bewohner des Ortes, steht mit leeren Händen vor dem Rathaus. Dort verteilt die Gemeinde Flaschenwasser. Zwei Liter pro Person und Tag. Mehr ist nicht drin. „Wir holen unsere Rationen fürs Wochenende“, sagt er nüchtern. Keine Klage, kein Pathos. Eher Pragmatismus. In diesen Tagen lernt man schnell, mit wenig auszukommen.

Der Grund für diese Einschränkungen liegt nicht in einem technischen Defekt, sondern im Überfluss. Die Regenfälle waren extrem. In Estagel fiel innerhalb weniger Stunden so viel Niederschlag wie sonst in einem ganzen Monat. Straßen verwandelten sich in Flussläufe, Fahrzeuge verloren ihren Halt. Mehrere Autos wurden von den Wassermassen einfach mitgerissen, als wären sie Spielzeug.



Eine Anwohnerin schildert den Moment, als sie sah, wie das Auto ihres Nachbarn davonschwamm. Es sei am Haus vorbeigetrieben und sei erst einige Meter weiter an Steinen hängen geblieben. Ihre Stimme verrät noch immer Unglauben. Alles sei rasend schnell gegangen. Zwei Stunden hätten gereicht, um aus einem harmlosen Bach eine zerstörerische Kraft zu machen. Man rechne nicht damit, sagt sie. Und genau das macht solche Ereignisse so gefährlich.

Währenddessen laufen im benachbarten Hérault weiterhin Suchaktionen. Eine 64-jährige Frau gilt seit dem 23. Dezember als vermisst. Sie war in der Nähe eines angeschwollenen Gewässers spazieren gegangen – und nicht zurückgekehrt. Die Rettungskräfte suchen weiter, trotz anhaltenden Regens und schwieriger Bedingungen. Die Unsicherheit liegt schwer in der Luft, unausgesprochen, aber allgegenwärtig.

Auch in den Pyrénées-Orientales bleiben viele Flussübergänge gesperrt. Besonders die Furten entlang des Flusses Agly sind unpassierbar. Das Wasser steht hoch, die Strömung ist tückisch. Für Ortskundige ist das ein ungewohnter Anblick. Noch vor wenigen Jahren lag das Flussbett vielerorts trocken, rissig, staubig. Die Dürre hatte den Alltag geprägt, die Landwirtschaft geschwächt, die Nerven strapaziert.

Und genau hier zeigt sich die Ambivalenz dieser Tage. Denn bei aller Sorge, bei aller Zerstörung: Die Freude über den Regen ist spürbar. Fast trotzig. Ein älterer Mann bringt es auf den Punkt. Er sagt, selbst wenn es den ganzen Tag weiterregnen würde, er wäre zufrieden. Dieses Wasser sei Gold wert. Vier, fünf Jahre Trockenheit lägen hinter ihnen. Endlich fühle es sich an, als seien sie nicht vergessen worden – weder von der Politik noch vom Himmel. Klingt ein bisschen pathetisch, ja. Aber in solchen Momenten darf man das.

Diese emotionale Zerrissenheit prägt viele Gespräche vor Ort. Einerseits die Erleichterung, dass die Böden wieder Wasser aufnehmen, die Reservoirs sich füllen, die Natur aufatmet. Andererseits die ganz realen Probleme: verunreinigtes Trinkwasser, beschädigte Infrastruktur, gesperrte Straßen. Der Alltag gerät ins Wanken, auch wenn niemand in Panik verfällt. Man arrangiert sich. Man hilft sich. So läuft das hier.

Meteorologisch gesehen hat sich die Lage inzwischen etwas beruhigt. Die Warnstufe wurde von Orange auf Gelb herabgestuft, sowohl für Regen als auch für Überschwemmungen. Das Schlimmste scheint vorerst überstanden. Doch Entwarnung klingt anders. Zu präsent sind die Bilder der letzten Tage, zu frisch die Erinnerungen an plötzlich anschwellende Flüsse und hilflose Autos.

Was bleibt, ist ein Lehrstück über Extreme. Über ein Klima, das keine Mittelwege mehr kennt. Entweder Dürre oder Flut, dazwischen kaum noch Grautöne. Für die Menschen in den Pyrénées-Orientales ist das längst keine abstrakte Debatte mehr, sondern Teil ihres Lebens. Heute holen sie Wasserflaschen, morgen vielleicht wieder Gießkannen. Improvisation gehört dazu.

Und irgendwo zwischen all dem rauscht der Verdouble weiter, unbeeindruckt von menschlichen Sorgen. Er führt Wasser, endlich. Zu viel vielleicht. Aber nach Jahren des Mangels fühlt sich selbst das Übermaß wie ein Versprechen an. Ein widersprüchliches, fragiles Versprechen. Doch eines, an das man sich klammert. Na klar.

Autor: C.H.

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