Man stelle sich vor: Eine Weltkonferenz zur Rettung der Ozeane, und die wichtigsten Ozeanforscher sagen ab. Nicht, weil sie keine Zeit haben – sondern aus Protest. Genau das passiert gerade in Nizza.
Die dritte UN-Ozeankonferenz (UNOC), die am 9. Juni 2025 in der südfranzösischen Mittelmeerstadt startet, hätte ein Fanal der globalen Entschlossenheit sein können – eine Plattform, auf der Staatenlenker, Wissenschaft und Zivilgesellschaft gemeinsam für die Rettung der Meere einstehen. Doch noch bevor die Eröffnungsrede gehalten ist, hängt der Schatten eines beispiellosen wissenschaftlichen Boykotts über dem Treffen.
Ein stiller Aufschrei der Ozeanwissenschaft
In der Welt der internationalen Diplomatie ist ein solcher Schritt mehr als ein symbolischer Akt. Es ist ein Aufschrei – einer, der Bände spricht.
Mehrere namhafte Forscherinnen und Forscher, darunter langjährige Mitglieder des Weltklimarats und renommierte Ozeanografen, haben sich gegen eine Teilnahme an der UNOC 3 entschieden. Der Grund? Sie werfen der Konferenz vor, ein Spektakel der Worte zu sein – ohne wirksame Maßnahmen, ohne echten Wandel.
Das Misstrauen ist nicht neu. Es speist sich aus Jahren der Erfahrung: Mahnungen zur Meeresversauerung, Warnungen vor Überfischung, Studien zu Mikroplastik und der dramatischen Erwärmung der Ozeane – sie alle verhallten bislang weitgehend ungehört. Wissenschaftliche Empfehlungen wurden in schöne Erklärungen gegossen, aber nicht in politische Realität überführt.
Oder um es mit den Worten einer frustrierten Meeresbiologin zu sagen: „Wir liefern die Fakten, aber niemand will die Konsequenzen hören.“
Zwischen Hochglanzbroschüren und leerem Meeresboden
Die Organisatoren – Frankreich und Costa Rica – haben sich das ambitionierte Motto gegeben: „Beschleunigte Aktionen zur nachhaltigen Nutzung und dem Schutz der Ozeane.“ Klingt nach Fortschritt.
Doch unter der Oberfläche brodelt es. Denn was fehlt, sind verbindliche Instrumente. Es gibt keine klaren Umsetzungspläne, keine Kontrollmechanismen, keine Konsequenzen bei Nichterfüllung. Ein Wissenschaftler spricht von einer „Hochglanzdiplomatie“, bei der viel versprochen – aber wenig gehalten wird.
Schon die erste Version der geplanten gemeinsamen Abschlusserklärung gilt in NGO-Kreisen als Rückschritt. „Nicht ehrgeizig genug“, lautet die Kritik von SeaLegacy und der Ocean Conservancy. Auch Greenpeace äußerte sich deutlich: „Wenn Worte Fische retten könnten, wären die Weltmeere längst gesund.“
Wird hier also tatsächlich mehr ins Mikrofon gesprochen als gehandelt?
Der alte Graben: Politik vs. Wissenschaft
Es ist ein altbekanntes Muster: Während Wissenschaftler die Dringlichkeit betonen, bremsen politische Realitäten. Und oft sind es wirtschaftliche Interessen, die das Steuer übernehmen – vor allem dort, wo Fischereilobbys, Plastikindustrie oder Offshore-Energieinvestoren mit am Tisch sitzen.
Die Fragmentierung der Meeres-Governance verschärft das Problem. Über 20 internationale Übereinkommen regeln heute Teile der Meeresnutzung – oft widersprüchlich, selten kohärent. Von der Hochseeschifffahrt über das Fischereimanagement bis zum Meeresbodenschutz: Jeder Bereich wird von einer anderen Organisation verwaltet.
Und wie will man in diesem Flickenteppich koordinierte, mutige Maßnahmen umsetzen?
Hoffnungsschimmer – oder bloß diplomatisches Feigenblatt?
Natürlich gibt es Fortschritte. Der 2023 beschlossene BBNJ-Vertrag (Biodiversity Beyond National Jurisdiction) markierte ein diplomatisches Novum: Zum ersten Mal wurde der Schutz der marinen Biodiversität in Gebieten außerhalb nationaler Hoheit völkerrechtlich verankert.
Auch die laufenden Verhandlungen über ein weltweites Abkommen gegen Plastikverschmutzung machen Hoffnung – zumindest auf dem Papier.
Doch genau da liegt das Problem. Denn viele dieser Abkommen wurden bisher nicht ratifiziert. Die Umsetzung hängt in der Luft – in den Parlamenten, in Bürokratien, in politischen Prioritäten. Frankreich hat zwar erklärt, diese Prozesse aktiv unterstützen zu wollen. Aber konkrete Resultate bleiben rar. Und genau das treibt den Keil zwischen Wissenschaft und Politik noch tiefer.
Wenn Worte nichts mehr wiegen: Warum Forscher fernbleiben
Besonders bitter wird der Boykott vor dem Hintergrund des One Ocean Science Congress, der unmittelbar vor der UNOC 3 in Nizza stattfand. Über 2.000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler kamen zusammen, entwickelten Leitlinien und Handlungsempfehlungen – ein Kraftakt der internationalen Forschungsgemeinschaft.
Doch die Rückmeldung war ernüchternd: Die politischen Verhandlungsteams der UNOC 3 griffen kaum auf diese Erkenntnisse zurück. „Wir liefern Daten, die morgen Leben retten könnten – aber sie bleiben in Schubladen liegen“, kommentierte ein ozeanographischer Modellierer aus Norwegen.
Warum geben sich so viele Entscheidungsträger mit symbolischen Gesten zufrieden – während der Meeresspiegel steigt und das Plankton stirbt?
Die versäumte Chance
Der wissenschaftliche Rückzug ist ein Weckruf – nicht nur für die Teilnehmenden der UNOC 3, sondern für die gesamte internationale Gemeinschaft. Denn was er offenlegt, ist keine momentane Verstimmung. Es ist das strukturelle Versagen eines politischen Systems, das die Lebensgrundlage von Milliarden aufs Spiel setzt.
Dabei ist die Bedeutung der Ozeane nicht verhandelbar: Sie regulieren unser Klima, speichern mehr CO₂ als alle Wälder der Erde zusammen, versorgen 3 Milliarden Menschen mit Eiweiß, beeinflussen das Wetter, die Gesundheit, die Ökonomie.
Ohne funktionierende Ozeane – keine Zukunft. Punkt.
Was jetzt zu tun ist
Der Boykott darf nicht ignoriert werden. Vielmehr sollte er als Einladung verstanden werden, die Art und Weise, wie wir globale Umweltkonferenzen gestalten, grundsätzlich zu überdenken. Was braucht es?
- Erstens: Verbindlichkeit. Politische Erklärungen müssen rechtliche Verankerung erhalten – etwa durch ein internationales Ozean-Übereinkommen mit Sanktionsmechanismen.
- Zweitens: Partizipation. Wissenschaftliche Erkenntnisse dürfen nicht bloß als Hintergrundrauschen wahrgenommen werden, sondern müssen maßgeblich in die Beschlüsse einfließen.
- Drittens: Gerechtigkeit. Küstenregionen im globalen Süden, die am meisten unter der Zerstörung der Meere leiden, müssen echte Mitsprache und Unterstützung erhalten – nicht nur finanzielle Zusagen, sondern strukturelle Gerechtigkeit.
Ein letzter Gedanke – und eine Frage
Als Journalist fragte ich mich schon oft: Wie laut muss Wissenschaft eigentlich noch rufen, bis sie gehört wird?
Und: Wie viele Konferenzen braucht es noch – bis aus Worten endlich Taten werden?
Die Konferenz in Nizza hätte ein Wendepunkt sein können. Vielleicht wird sie das auch – nur anders als geplant. Vielleicht war es nötig, dass einige der klügsten Köpfe fernblieben, um endlich den Raum für echte Debatten zu öffnen. Ohne PR, ohne Symbolpolitik – dafür mit dem Mut zur Veränderung.
Denn was wir retten, wenn wir die Ozeane retten, ist nichts Geringeres als uns selbst.
Von Andreas M. Brucker
Quellen:
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