Mitten im andauernden Krieg gegen Russland hat die ukrainische Regierung unter Präsident Wolodymyr Selenskyj eine weitreichende Gesetzesänderung durchgesetzt, die die Architektur der Anti-Korruptionsbekämpfung im Land grundlegend verändert – und in der Zivilgesellschaft und bei westlichen Partnern Besorgnis auslöst. Die zentralen Behörden zur Korruptionsbekämpfung, NABU und SAPO, verlieren wesentliche Elemente ihrer Unabhängigkeit. In einer Zeit, in der sich die Ukraine als Beitrittskandidat der Europäischen Union präsentiert, wirft die Reform unangenehme Fragen zur Gewaltenteilung und demokratischen Rückbindung auf.
Die Reform und ihr Inhalt
Die Gesetzesänderung sieht vor, dass das Nationale Antikorruptionsbüro (NABU) sowie die Spezialisierte Antikorruptionsstaatsanwaltschaft (SAPO) künftig der Autorität des Generalstaatsanwalts unterstehen – einer Figur, die vom Präsidenten ernannt wird. Der Generalstaatsanwalt erhält damit weitreichende Befugnisse: Er kann Weisungen erteilen, laufende Ermittlungen übernehmen oder sie anderen Behörden übertragen. Damit wird die direkte Kontrolle der Exekutive über Ermittlungen gegen politische Eliten ausgeweitet.
Bislang agierten NABU und SAPO als weitgehend autonome Institutionen, die nach der Maidan-Revolution von 2014 bewusst geschaffen worden waren, um das Vertrauen der Bevölkerung in den Rechtsstaat zu stärken und die grassierende Korruption in Staat und Verwaltung nachhaltig zu bekämpfen. Die neue Regelung stellt diese Unabhängigkeit fundamental in Frage.
Eile statt Deliberation
Besondere Aufmerksamkeit erregte das Zustandekommen der Reform. Der entscheidende Passus wurde in einer kurzfristig einberufenen Ausschusssitzung am frühen Morgen eingebracht, unter Umgehung üblicher parlamentarischer Verfahren. Wenige Stunden später stimmte das Parlament mit deutlicher Mehrheit für die Vorlage, und noch am selben Abend wurde das Gesetz vom Präsidenten unterzeichnet. Diese überstürzte Vorgehensweise wird von Kritikern als Versuch gewertet, Widerstand im Keim zu ersticken – insbesondere angesichts der Tatsache, dass sich die betroffenen Behörden mit Ermittlungen gegen Regierungsnahe befasst haben.
Ein Sturm der Kritik
Der Protest gegen die Reform ließ nicht lange auf sich warten. Vertreter der Zivilgesellschaft, politische Beobachter und nicht zuletzt die betroffenen Institutionen selbst warnten vor einem schweren Rückschritt. Die Reform stelle einen Bruch mit der Reformagenda dar, die nach der Revolution von 2014 eingeleitet worden war. Die Leiter von NABU und SAPO äußerten in einem gemeinsamen Kommuniqué, dass die Änderungen ihre Institutionen zu „Sub-Abteilungen“ degradieren würden – ohne effektive operative Unabhängigkeit.
In der Bevölkerung regte sich seltener, aber symbolträchtiger Protest. Trotz geltender Einschränkungen unter dem Kriegsrecht versammelten sich erstmals seit Beginn der russischen Invasion Hunderte Menschen zu spontanen Demonstrationen in Kiew, Lwiw und Odessa. Plakate mit der Aufschrift „Wir haben Europa gewählt, nicht die Autokratie“ brachten den politischen Kern der Kritik auf den Punkt: Die Gefahr, dass sich die Ukraine vom europäischen Weg entfernt und zurück in alte Muster autoritärer Machtkonzentration fällt.
Internationale Besorgnis
Auch auf europäischer Ebene wurden deutliche Worte gefunden. Die Europäische Kommission äußerte „tiefe Besorgnis“ über die Gesetzesänderung und forderte die ukrainische Regierung zu einer Klarstellung auf. Die politische Botschaft ist unmissverständlich: Die Unabhängigkeit von Justiz und Ermittlungsbehörden ist eine Grundvoraussetzung für einen möglichen EU-Beitritt. Die Reform sei ein „ernsthafter Rückschritt“, hieß es aus Brüssel.
Auch andere westliche Partner äußerten Kritik. Besonders heikel erscheint der Zeitpunkt, da die Ukraine in erheblichem Maße auf finanzielle und politische Unterstützung angewiesen ist. Diese Hilfen stehen nicht zuletzt unter dem Vorbehalt demokratischer Fortschritte, insbesondere im Bereich der Korruptionsbekämpfung.
Zwischen Effizienz und Machtkalkül
Präsident Selenskyj verteidigte die Reform mit Verweis auf den Kampf gegen russische Einflussnahme und ineffiziente Ermittlungsverfahren. Einige Ermittlungen seien über Jahre hinweg verschleppt worden, ohne dass es zu Anklagen gekommen sei. Die neue Regelung solle eine „Klarstellung der Zuständigkeiten“ herbeiführen und die Arbeit beschleunigen. Ob dahinter jedoch tatsächliche Effizienzüberlegungen stehen oder der Versuch, kritische Verfahren zu neutralisieren, bleibt offen.
Zweifel daran nähren nicht zuletzt zeitgleiche Entwicklungen: Kurz vor der Verabschiedung der Reform war ein NABU-Mitarbeiter wegen angeblicher Spionage für Russland festgenommen worden. Beobachter sprachen von einer gezielten Aktion zur Diskreditierung der Institution – ein Vorgang, der den Eindruck politischer Instrumentalisierung verstärkt.
Politisches Risiko in schwieriger Lage
Für Selenskyj birgt die Reform ein hohes politisches Risiko. Zwar besitzt er weiterhin beträchtliches Vertrauen in der Bevölkerung – getragen vom Bild eines entschlossenen Kriegsherrn gegen Russland. Doch das Gleichgewicht zwischen autoritärer Effizienz in Kriegszeiten und der Wahrung demokratischer Prinzipien ist fragil.
Die Ukraine steht vor einer doppelten Bewährungsprobe: außenpolitisch, um das Vertrauen ihrer westlichen Partner zu bewahren, und innenpolitisch, um die demokratischen Erwartungen einer kritischen Zivilgesellschaft nicht zu enttäuschen. Die Anti-Korruptionsinstitutionen waren ein Symbol für das „neue“ postrevolutionäre Land – ihre Schwächung sendet ein gegenteiliges Signal.
Wie es weitergeht, ist offen. Nach den Protesten hat Selenskyj angekündigt, die Reform gegebenenfalls zu präzisieren oder neue Vorschläge zu unterbreiten. Ob es dabei bleibt oder strukturelle Korrekturen folgen, wird entscheidend sein – für die Glaubwürdigkeit seiner Regierung und für den europäischen Kurs der Ukraine insgesamt.
Autor: P. Tiko
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