Es gibt Orte, die riechen nach Kindheit, sobald man die Tür öffnet.
Nach Zimt.
Nach warmer Butter.
Nach Zeit, die sich plötzlich nicht mehr beeilt.
La Perrière im Perche ist so ein Ort. Ein Dorf mit 250 Seelen, einer Handvoll Gassen, alten Mauern – und einem Restaurant, das mehr als nur satt macht. Hier hat Laurent Loingtier Weihnachten nicht erfunden. Er hat es bewahrt. Wie ein Familienrezept, das man nicht aufschreibt, sondern weitergibt, von Hand zu Hand, von Herz zu Herz.
Wer an einem Dezemberabend vor der Maison d’Horbé steht, merkt sofort: Hier geht es nicht um Schnickschnack. Kein blinkendes Spektakel. Kein Lärm. Nur dieses warme Leuchten hinter den Fenstern, das sagt: Komm rein. Es ist noch Platz.
Drinnen dampft ein alter Kupferkessel aus dem 18. Jahrhundert. Kein Dekostück. Er arbeitet noch. In ihm brodelt Orangenkonfitüre mit Schokolade, Zimt, Nelken – Laurent rührt langsam, fast feierlich. Er lächelt. „Das ist Winter“, sagt er. Mehr braucht es nicht.
Weihnachten beginnt hier nicht am 24.
Es beginnt im Kopf.
Und im Bauch.
Laurent steht seit 25 Jahren an diesem Herd. Früher war das Gebäude eine Brocante. Heute ist es Restaurant, Antiquitätenladen, Wohnzimmer, Erinnerungsarchiv. Die Stühle stammen aus verschiedenen Jahrzehnten, der Boden knarrt ehrlich, die Wände tragen Patina statt Farbe. Nichts wirkt geschniegelt. Alles wirkt gelebt.
„Man fühlt sich wie bei der Großmutter“, sagen Gäste oft.
Sie meinen das als Kompliment.
Denn hier sitzt man nicht geschniegelt da, sondern geborgen. Zwischen Porzellanfiguren, alten Spiegeln, vergessenen Bildern. Dinge, die Geschichten flüstern, wenn man zuhört. Und wer zuhört, hört auch Laurent.
Er spricht gern von früher. Von Weihnachten, wie es einmal war. Von seinem Vater, der am Heiligabend einen Zigarrestummel und ein kleines Glas Alkohol auf den Kaminsims stellte. Für den Weihnachtsmann, natürlich. Am Morgen danach war alles weg. Magie, sagt Laurent. Reine Magie.
Glaubt er heute noch daran?
Er lacht.
Und rührt weiter.
Am 23. Dezember herrscht Hochbetrieb. Die Küche läuft auf Anschlag, ohne Hektik, ohne Geschrei. Vierzig Gedecke. Stammgäste. Menschen, die sich kennen. Man nickt sich zu, lächelt, prostet sich mit einem Glas Sancerre zu.
Der Raum verändert sich, wenn das Licht angeht. Laurent hat investiert. In Girlanden, Kerzen, einen riesigen Baum. „Man merkt erst beim Einschalten, ob es funktioniert“, sagt er. Ein bisschen Lampenfieber bleibt immer.
Dann klickt der Schalter.
Und plötzlich ist alles gut.
„Man kommt rein und ist sofort drin“, sagt eine ältere Dame am Fenster. „Im Fest.“ Ihr Mann nickt, schneidet das Ris de Veau an und grinst. „Danach ist es egal, wie das Wetter draußen ist.“
Draußen ist es kalt.
Drinnen nicht.
Die Speisekarte liest sich wie ein Spaziergang durch den Winterwald. Foie gras. Lotte. Biche aux morilles. Jakobsmuscheln mit Zitrusfrüchten. Keine Experimente um der Effekte willen. Nur klassische Gerichte, präzise, liebevoll gekocht.
53 Euro kostet das Weihnachtsmenü. Nicht wenig. Nicht zu viel. Die Gäste wissen, wofür sie zahlen. Für Handwerk. Für Atmosphäre. Für jemanden, der am 25. Dezember lieber arbeitet als Urlaub macht.
Warum eigentlich?
Laurent zuckt mit den Schultern. „Man ist an dem Tag anders. Nicht nur Restaurateur.“ Er spricht leiser. „Man ist irgendwie mit den Gästen zusammen. Als wären sie Familie.“
Familie ist hier kein Marketingwort. Sie sitzt am Tisch, arbeitet in der Küche, wohnt gegenüber.
Denn direkt gegenüber hat sein Neffe Hugues eine Brasserie eröffnet, mit Gästezimmern. Zwei Häuser. Eine Idee. Weihnachten teilen sie sich auf. Der eine schließt an Silvester, der andere an Heiligabend. So bleibt immer jemand da.
Für die Gäste.
Und füreinander.
Ist das klug?
Oder einfach menschlich?
Im Perche kennt man sich. Und man hilft sich. Laurent arbeitet fast ausschließlich mit Produzenten aus der Umgebung. Gemüse vom Nachbardorf. Fleisch von Bauern, die er beim Namen kennt. Das Dessert kommt in diesem Jahr von einer Bäckerei aus Bellême.
Ein Macaron mit exotischen Früchten. Klingt modern. Schmeckt nach Hoffnung. Für die Bäcker bedeutet der Auftrag Luft zum Atmen in schwierigen Zeiten. Für Laurent bedeutet er Vertrauen.
„Wir sind zufrieden“, sagen sie. „Aber ein bisschen nervös.“
Er nickt. Nervosität gehört dazu. Auch nach 25 Jahren.
Vielleicht sogar mehr.
Wer glaubt, ein Mann wie Laurent lebe nur für sein Restaurant, täuscht sich. Jeden Morgen geht er mit seiner Hündin spazieren. Eine Stunde. Egal bei welchem Wetter. Durch den Wald. Durch das Dorf. Bewegung gegen Müdigkeit, gegen Stress, gegen das Gefühl, dass alles zu viel wird.
„Danach ist man wieder voll da“, sagt er. „Regonflé au max.“
Ein bisschen Umgangssprache schadet nicht. Auch nicht an Weihnachten.
Denn Weihnachten ist Arbeit. Viel Arbeit. Zwei Wochen, in denen ein großer Teil des Jahresumsatzes entsteht. Kein Raum für Fehler. Kein Platz für Schwäche. Und trotzdem bleibt Zeit für ein Lächeln, ein kurzes Gespräch am Tisch, ein Zwinkern.
„Noch ein bisschen Foie gras?“
„Ach komm, es ist Weihnachten.“
Wer sagt da nein?
Manchmal geht Laurent mit einer Hotte durch den Raum. Verteilt Foie gras, schenkt heißen Kakao aus. „Ich helfe dem Weihnachtsmann“, sagt er und lacht. Die Gäste lachen mit. Manche haben feuchte Augen. Vielleicht wegen der Gewürze. Vielleicht wegen der Erinnerung.
Wann haben wir eigentlich aufgehört, uns an einfachen Dingen zu freuen?
An einem guten Essen.
An einem gedeckten Tisch.
An jemandem, der sich Zeit nimmt.
Hier, in der Maison d’Horbé, erinnert man sich wieder daran. Ganz automatisch. Ohne Predigt. Ohne Zeigefinger.
Man sitzt.
Man isst.
Man ist zusammen.
Der Abend vergeht langsam. Niemand drängt. Niemand schaut auf die Uhr. Draußen legt sich Nebel über das Dorf. Drinnen klirren Gläser. Ein Paar erzählt, dass es seit zwanzig Jahren jedes Weihnachten hier verbringt. „Es gehört einfach dazu“, sagt die Frau. „Wie der Baum.“
Ein junger Mann macht Fotos. „Für später“, sagt er. „Damit ich mich erinnere.“
Woran genau?
Vielleicht daran, dass Weihnachten nicht perfekt sein muss.
Nur ehrlich.
Wenn die letzten Gäste gehen, bleibt Laurent noch. Räumt auf. Löscht Kerzen. Streicht über den alten Holztisch. Er sieht müde aus. Zufrieden. Ein bisschen still.
In ein paar Wochen nimmt er Urlaub. Nach den Festtagen. Irgendwohin, wo es ruhig ist. Aber jetzt zählt nur eines: da sein. Für seine zweite Familie.
Ist das altmodisch?
Oder einfach zeitlos?
La Perrière schläft wieder ein. Die Maison d’Horbé leuchtet noch kurz. Dann wird es dunkel. Der Duft von Zimt hängt in der Luft, als Erinnerung, als Versprechen.
Wer hier Weihnachten feiert, nimmt etwas mit.
Nicht eingepackt.
Nicht gekauft.
Etwas Warmes.
Etwas Bleibendes.
Und vielleicht denkt man später, irgendwo zwischen Januar und Alltag:
Da war doch dieser Ort.
Dieser Tisch.
Dieses Gefühl.
Man sollte wieder hinfahren.
Ein Artikel von M. Legrand
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