An einem kühlen Frühlingsabend in Paris stehen junge Menschen vor einer Kirche im zehnten Arrondissement. Einige lachen nervös, andere schweigen. Drinnen wartet die Osternacht. Weihwasser. Kerzenlicht. Alte Worte, die plötzlich neu klingen. Ein Einzelfall? Oder doch ein Zeichen der Zeit?
Frankreich und der katholische Glaube – das bleibt eine komplizierte Liebesgeschichte. Jahrzehntelang galt Religion hier als höflich geduldeter Rest aus einer anderen Epoche. Laizität als Staatsprinzip, Skepsis als gesellschaftlicher Konsens. Und doch flackert seit einiger Zeit etwas auf, leise, unaufdringlich, aber spürbar. Ein Hauch von Rückkehr. Oder täuscht das?
Zahlen, die aufhorchen lassen – und trotzdem Fragen offenlassen
Im Frühjahr 2025 sorgte eine Zahl für hochgezogene Augenbrauen: Über 10.000 Erwachsene ließen sich in der Osternacht taufen. Ein Plus von fast 45 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Bestätigt von der Conférence des évêques de France.
Solche Zahlen passen so gar nicht zum gängigen Bild eines religiös ausgekühlten Landes. Jahrzehntelang gingen Taufen zurück, Gemeinden schrumpften, Priester wurden rar. Und plötzlich das?
Wer genauer hinschaut, erkennt eine Besonderheit: Ein großer Teil dieser Neugetauften ist jung. Sehr jung. Viele zwischen 18 und 25. Menschen also, die ohne kirchliche Sozialisation aufwuchsen, ohne sonntäglichen Messbesuch, ohne Religionsunterricht, der diesen Namen verdient.
Warum gerade sie?
Vielleicht, weil sie in einer Welt groß wurden, die ständig beschleunigt, alles erklärt, aber wenig Halt bietet. Vielleicht auch, weil alte Gewissheiten verschwinden – beruflich, politisch, klimatisch. Oder schlicht, weil die großen Fragen irgendwann lauter klopfen.
Ein genauerer Blick auf die Praxis
Noch ein Detail fällt auf. Unter den praktizierenden Katholiken geben heute rund die Hälfte an, regelmäßig zu beichten. Keine folkloristische Pflichtübung, sondern eine bewusste Entscheidung. Für viele Soziologen ein Hinweis auf eine Intensivierung des Glaubens – allerdings in einer sehr begrenzten Gruppe.
Denn ja, diese Gruppe bleibt klein.
Die nüchternen Zahlen zeigen weiterhin eine klare Richtung: Die große Mehrheit der Franzosen lebt ohne religiöse Praxis. Nur etwa 2 Prozent besuchen laut jüngeren Erhebungen jeden Sonntag die Messe. Der Glaube als Alltagsbegleiter? Für die meisten Fehlanzeige.
Hier liegt der Kern des Paradoxons: Weniger Gläubige, aber engagiertere.
Die lange Kurve seit 1950 – vom Selbstverständnis zur Randposition
In den 1950er Jahren galt Frankreich noch als katholisches Kernland. Über 80 Prozent der Bevölkerung bezeichneten sich als katholisch. Die Sonntagsmesse gehörte für viele zum Wochenrhythmus wie das Baguette auf dem Tisch.
Dann kam der Bruch.
Die 1960er. Urbanisierung. Bildungsboom. Mai 68. Autoritäten verloren an Glanz – auch die kirchliche. Von da an ging es stetig bergab. Nicht abrupt, eher wie ein langsames Ausfransen.
Heute bezeichnen sich zwar noch viele als „katholisch“, doch oft meint das eher Herkunft als Überzeugung. Taufe als Familientradition. Kirche als Kulisse für Hochzeiten. Mehr Symbol als Substanz.
Studien des Pew Research Center zeigen: Frankreich gehört zu den am stärksten säkularisierten Ländern Europas. Der Glaube an Gott sinkt weiter. Selbst unter nominellen Katholiken.
Und trotzdem – diese neuen Zahlen passen nicht ganz ins Bild.
Ein Glaube, der sich verwandelt
Die Kirche in Frankreich wirkt heute anders als noch vor dreißig Jahren. Weniger Volkskirche. Mehr Netzwerk. Weniger Pflicht. Mehr Entscheidung.
Soziologen sprechen von einer post-charismatischen Phase. Klingt sperrig, meint aber etwas Einfaches: Der Glaube ist kein Massenphänomen mehr, sondern ein bewusst gewählter Lebensstil. Oft verbunden mit sozialem Engagement, geistlicher Bildung, Diskussionen, die eher an Seminare erinnern als an Kanzelpredigten.
Man trifft diese neuen Katholiken nicht nur in Kirchenbänken, sondern auch bei Suppenküchen, Debattenabenden, Umweltprojekten. Glauben als Haltung. Nicht als Regelwerk.
Ein junger Mann aus Lyon brachte es kürzlich so auf den Punkt:
„Ich suche keine Antworten von gestern. Ich suche Tiefe. Und Ehrlichkeit.“
Klingt fast nach Start up Kultur. Nur mit Weihrauch.
Die Jugend – überraschender Motor einer alten Religion
Gerade junge Erwachsene rücken in den Fokus. Studien und Reportagen, unter anderem von Le Monde, zeigen ein wachsendes Interesse an Spiritualität. Nicht nur christlich, auch buddhistisch, muslimisch, esoterisch.
Was sie verbindet: die Sehnsucht nach Sinn.
Klimakrise. Kriege. Dauerkrisenmodus. Viele empfinden die Welt als fragil. Leistung allein reicht nicht mehr als Lebenssinn. Und genau hier taucht Religion wieder auf – nicht als Dogma, sondern als Angebot.
Warum also nicht der Katholizismus? Alte Rituale. Jahrtausendealte Texte. Eine gewisse Ernsthaftigkeit, die im schnellen digitalen Alltag selten geworden ist.
Ironisch, oder? Gerade das, was lange als verstaubt galt, wirkt plötzlich entschleunigend.
Kein Massenphänomen – und doch mehr als ein Strohfeuer
Trotz aller Dynamik bleibt Vorsicht angebracht. Von einer religiösen Renaissance im klassischen Sinn lässt sich kaum sprechen. Die Strukturen der Gesellschaft bleiben säkular. Schule, Politik, Medien – Religion spielt dort eine Nebenrolle.
Auch die Kirche selbst steht vor massiven Herausforderungen: Priestermangel, Vertrauensverlust durch Missbrauchsskandale, interne Spannungen zwischen Tradition und Reform.
Und dennoch entsteht etwas Neues. Kein Rückgriff auf die 1950er. Kein Marsch zurück in eine imaginierte goldene Vergangenheit. Sondern eine kleine, aber intensive Bewegung, getragen von Menschen, die bewusst Ja sagen – während viele andere längst Nein gesagt haben.
Ist das weniger wert? Oder vielleicht sogar ehrlicher?
Zwei Wahrheiten nebeneinander
Frankreich bleibt ein säkulares Land. Daran zweifelt niemand ernsthaft. Der katholische Glaube prägt nicht mehr die Mehrheit. Punkt.
Aber gleichzeitig existiert eine andere Realität: ein Glaube, der schmaler, aber tiefer geworden ist. Weniger automatisch. Mehr gesucht. Mehr diskutiert. Mehr gelebt.
Vielleicht liegt genau darin die eigentliche Veränderung.
Nicht in Zahlenkolonnen. Sondern in Biografien.
In jungen Menschen, die sich taufen lassen, obwohl niemand es von ihnen erwartet.
In Gemeinden, die kleiner sind, aber lebendig.
In Gesprächen, die nicht mit Gewissheiten enden, sondern mit weiteren Fragen.
Und mal ehrlich: Ist das nicht genau das, was Glauben immer sein sollte?
Ein vorsichtiger Ausblick
Ob diese Bewegung anhält, weiß niemand. Vielleicht ebbt sie ab. Vielleicht wächst sie langsam weiter. Sicher ist nur: Das Thema Religion verschwindet nicht. Es verändert seine Gestalt.
Frankreich erlebt keinen spirituellen Frühling im großen Stil. Aber vielleicht viele kleine Knospen. Unauffällig. Unperfekt. Echt.
Und manchmal reicht das.
Ein Artikel von M. Legrand
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