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Vor zehn Jahren führte Frankreich ein umstrittenes Verbot für Frauen ein, in der Öffentlichkeit den vollständigen islamischen Gesichtsschleier zu tragen, aber die Gesetzgebung hatte nicht die gewünschte Wirkung, und die französischen Regierungen machen immer noch denselben Fehler gegenüber den muslimischen Bürgern des Landes, schreibt Agnes de Feo, Autorin eines neuen Buches zu diesem Thema.

Seit 2008 beschäftigt sich die französische Soziologin Agnès De Féo in Frankreich mit dem Thema des Niqab – dem muslimischen Gesichtsschleier. Sie hat mit über 200 Frauen gesprochen, die ihn tragen.

Anlässlich des zehnjährigen Bestehens des umstrittenen Gesetzes, das Frauen das Tragen des Niqab an öffentlichen Orten verbietet, erläutert De Feo die tatsächlichen Auswirkungen des Verbots und erklärt, warum die französischen Regierungen ihre Sicht auf die muslimischen Bürger des Landes ändern müssen.

Am 11. Oktober 2010 wurde in Frankreich ein Gesetz verabschiedet, um diejenigen muslimischen Frauen zu bestrafen, die den Vollgesichtsschleier – Niqab auf Arabisch – trugen, was damals nur einige hundert Frauen betraf.

Um den Islam nicht direkt zu treffen, erhielt das Gesetz einen neutralen Titel. Offiziell sollte es das „Verbergen des Gesichts im öffentlichen Raum“ verbieten.

Ironischerweise ist zehn Jahre später aufgrund der Covid-19-Epidemie und der Vorschrift, Gesichtsmasken zu tragen, das Verbergen des Gesichts in Frankreich nun Pflicht und nicht mehr verboten.

Auch ist das Händeschütteln mit dem anderen Geschlecht von einer obligatorischen sozialen Geste zu einer verbotenen Geste geworden.

Vor zehn Jahren wurden strenggläubige Muslima kritisiert, weil sie einen Vollgesichtsschleier trugen und sich weigerten, dem anderen Geschlecht die Hand zu geben, was als mangelnde Höflichkeit empfunden wurde.

Der Niqab ist in Frankreich inzwischen extrem selten geworden.

Die Zahl der Frauen, die ihn im Jahr 2020 tragen, ist unter das Niveau von 2009 gesunken, als die Kontroverse um das vorgeschlagene Gesetz aufflammte.

Dieser Rückgang sollte jedoch nicht als Auswirkung des Gesetzes selbst betrachtet werden, das in den Jahren nach 2010 zu einem exponentiellen Anstieg des Tragens des Niqab geführt hat.

Das liegt daran, dass das Gesetz einen Anreizeffekt hatte: Es spornte Frauen dazu an, das Verbot zu übertreten, indem sie den verbotenen Gegenstand trugen.

das Verbot machte den Niqab interessanter und sorgte bei einigen jungen Frauen für den Wunsch, sich über das Gesetz hinwegzusetzen.

Tatsächlich trugen nach der Einführung des Gesetzes mehr Frauen den Niqab als zuvor.

Diese Neo-Niqabees fühlten sich von dem Symbol angezogen, weil es ihnen das Gefühl gab, Heldinnen zu sein und sich dem Verbotenen zu widersetzen.

Diese nach dem Gesetz geborenen neuen Partisanen mit Vollgesichtsschleier hatten alle etwas gemeinsam – dass sie keinen religiösen Hintergrund hatten. In dieser Gruppe gab es eine überproportioinale Zahl von Konvertiten zum Islam mit atheistischem oder agnostischem Hintergründen. Nicht der Glaube veranlasste sie dazu, diesen Weg des modischen Radikalismus zu wählen.

Der Hang zum Verbotenen schuf eine neue Form der religiösen Observanz, weg von den Moscheen, eine virtuelle Form, die sich in salafistischen sozialen Netzwerken entwickelte.

Schuld an diesem Phänomen war die enorme und übertriebene Medienberichterstattung über den Gesetzesentwurf ab Juni 2009, die sich auf die öffentliche Meinung in Frankreich auswirkte.

Im Folgenden sahen sich einige „gute“ französische Bürgerinnen und Bürger in der Verantwortung, das Gesetz selbst durchzusetzen. Sie richteten Beleidigungen, Drohungen und sogar körperliche Gewalt gegen Frauen, die weiterhin den Vollgesichtsschleier trugen.

Diese Frauen reagierten auf die Angriffe nicht mit dem Verzicht auf den Niqab, sondern mit Widerstand. Sie betrachteten sie als von Gott gesandte Prüfungen.

So entwickelte sich eine Pattsituation zwischen diesen beiden Lagern, die für jede Seite den Einsatz von Beleidigungen gegen die andere rechtfertigte.

Einige Frauen, die den Niqab trugen, hatten genug Widerstandskraft, um das durchzustehen, während andere sich dafür entschieden, nach Großbritannien oder in den Maghreb in Nordafrika auszuwandern.

Viele jedoch kapselten sich einfach von allen sozialen Bindungen zur Außenwelt ab und traten in eine Spirale der „Marginalisierung“ ein, insbesondere indem sie nicht mehr aus dem Haus gingen und ihre Kinder aus der Schule nahmen.

Ein ähnliches Problem wurde bei dem französischen Gesetz von 2004 beobachtet, das „religiöse Symbole in Schulen“ verbot.

Auch wenn der Titel dieses Gesetzes den Anschein erweckte, dass es alle Formen der Religionsausübung abdeckte, so war auch hier vor allem das muslimische Kopftuch oder der Gesichtsschleier im Visier.

Junge Mädchen, die sich weigerten, den Schleier zu entfernen, wurden von öffentlichen Schulen ausgeschlossen.

Infolge dieses Gesetzes aus dem Jahr 2004 ist die Zahl der in Frankreich geborenen Frauen, die sich für das Tragen des Schleiers entschieden haben, explosionsartig angestiegen.

Zuvor trugen meist nur Frauen, die im Maghreb geboren wurden und als Erwachsene nach Frankreich kamen, einen Gesichtsschleier.

Erst nach diesem Gesetz wurden muslimische Schulen gegründet, um diese Mädchen aufzunehmen, die aus öffentlichen Schulen gedrängt worden waren.

Es handelt sich um dieselben Schulen, deren Existenz Präsident Emmanuel Macron nun beklagt und deren Existenz er für eine mangelnde Integration verantwortlich macht.

Wieder einmal setzt eine Regierung in Frankreich die Stigmatisierung der französischen Muslime fort, indem sie ihnen „Separatismus“ vorwirft, wie Macron es in seiner jüngsten Rede tat und plant, gegen den radikalen Islam vorzugehen.

Aber es sind die französischen Regierungen selbst, die diese Trennung in den letzten zwei Jahrzehnten geschaffen haben, indem sie die Muslime in einer Selbstmarginalisierung zum Rückzug drängten.

Die einzige Lösung besteht heute darin, dass Frankreich seine Muslime als vollwertige französische Bürger in völliger Gleichberechtigung mit anderen akzeptiert und sie mit Würde behandelt.

Mit anderen Worten, indem es die republikanischen Prinzipien der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit auf seine muslimische Bevölkerung anwendet.


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