Es ist ein Fall, der einem den Atem raubt – und das Vertrauen in Institutionen ins Wanken bringt. Joël Le Scouarnec, ein ehemaliger Chirurg aus Frankreich, wurde zu 20 Jahren Haft verurteilt. Die Anschuldigungen? Grausam. Der 74-Jährige hat über einen Zeitraum von 25 Jahren mindestens 299 Kinder und Jugendliche sexuell missbraucht – im Krankenhaus, unter Narkose, in der Nachbarschaft. Ein Abgrund tat sich auf. Und doch blieb Frankreich lange still.
Der Täter im weißen Kittel
Le Scouarnec war kein Unbekannter. Seit den 1980er Jahren arbeitete er in mehreren Krankenhäusern im Westen Frankreichs, ein angesehener Viszeralchirurg. Doch hinter dem Image des vertrauenswürdigen Arztes lauerte ein Serienverbrecher – einer, der sich an den Schwächsten verging. Die meisten seiner Opfer waren unter 15 Jahre alt. Er nutzte gezielt Narkosephasen und postoperative Zustände aus – ein perfider Missbrauch der ärztlichen Autorität.
2005 flog er bereits einmal auf – wegen Besitzes von kinderpornografischem Material. Eine Vorstrafe, ja. Doch arbeitsrechtliche Konsequenzen? Keine. Er praktizierte einfach weiter. Man fragt sich: Wie kann das sein?
Ein Tropfen bringt das Fass zum Überlaufen
2017 war es dann ein sechsjähriges Mädchen aus der Nachbarschaft, das Le Scouarnec anzeigte. Der Mann hatte sich ihr gegenüber entblößt. Die Ermittlungen, die daraufhin folgten, brachten das gesamte Ausmaß seines Handelns ans Licht. In seinem Haus fanden die Behörden über 300.000 Dateien mit kinderpornografischem Inhalt. Und akribisch geführte Tagebücher – ein monströser Katalog des Grauens.
Manche Einträge reichten Jahrzehnte zurück, viele Opfer konnten bis heute nicht identifiziert werden. Le Scouarnec beschrieb in klinischer Sprache, was er tat – ganz so, als handle es sich um medizinische Protokolle. Verstörend nüchtern.
Der Prozess: ein nationales Trauma
Im Februar 2025 begann der Prozess gegen den Chirurgen in Vannes. Eine Vielzahl von Zeugen trat auf. Viele mussten sich jahrelang mit der Scham und dem Schmerz herumschlagen – und tuen es noch immer. Le Scouarnec selbst gestand – emotionslos, kalt, ohne Reue. Auch den Missbrauch seiner Enkelin gab er zu. Er sagte vor Gericht: „Ich sah sie nicht als Menschen. Sie waren das Ziel meiner Fantasien.“ Ein Satz, der sich einbrennt.
Die Richterin Aude Buresi verurteilte ihn heute zu 20 Jahren Gefängnis – dem Maximum, das das französische Strafrecht für diese Vergehen vorsieht. Doch vielen Opfern reicht das nicht. „Er darf nie wieder auf freien Fuß kommen“, so die einhellige Meinung.
Institutionelles Versagen auf ganzer Linie
Der Skandal um Le Scouarnec ist nicht nur die Geschichte eines Einzeltäters – er ist ein Schuldeingeständnis der Institutionen. Trotz der Verurteilung 2005 gab es keine ernsthaften Überprüfungen. Die Ärztekammer? Schwieg. Neue Arbeitgeber? Nahmen ihn trotz seiner Vergangenheit ohne Nachfragen auf.
Mehr noch: Le Scouarnec selbst informierte seine Vorgesetzten über seine Vorstrafen. Konsequenzen? Keine. Das Vertrauen in das Gesundheitssystem? Tief erschüttert.
Und hier stellt sich die bittere Frage: Wer schützt eigentlich die Schutzlosen?
Öffentliche Reaktion? Erschreckend verhalten
Was die Opfer besonders trifft, ist das beinahe ohrenbetäubende Schweigen in der Öffentlichkeit. Anders als bei anderen Missbrauchsskandalen – etwa im Fall Gisèle Pelicot – blieb die Empörung in Frankreich größtenteils aus. Eine Betroffene brachte es auf den Punkt: „Sie tun so, als wäre er ein Monster. Dabei ist das eigentliche Monster die Gesellschaft, die ihn gemacht hat – und die ihn hat machen lassen.“
Der Fall zeigt, wie leicht Missbrauch unter dem Deckmantel von Status und Berufsethos verschleiert werden kann. Eine fatale Mischung aus Wegschauen, Schweigen und Versagen auf allen Ebenen.
Ein Fall, der alles ändern muss
Dieser Skandal darf nicht in den Akten verstauben. Frankreich muss seine Strukturen überdenken – grundlegend. Gesundheitsämter, Justiz, Politik: Sie alle tragen eine Mitverantwortung. Reformen sind nötig. Und zwar nicht irgendwann, sondern jetzt.
Kinderschutzorganisationen fordern eine unabhängige Untersuchung. Sie verlangen außerdem, dass Missbrauchsdelikte in medizinischen Einrichtungen härter verfolgt und verhindert werden. Es braucht klare Regeln, Transparenz und einen konsequenten Umgang mit Hinweisen auf Fehlverhalten.
Le Scouarnec mag inhaftiert sein – aber der Vertrauensbruch sitzt tief. Es liegt an der Gesellschaft, zu zeigen, dass sie aus diesem dunklen Kapitel lernen will. Denn Schweigen ist kein Schutzschild – es ist Komplize.
Von C. Hatty
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