Zum ersten Mal seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs könnte Frankreich im Jahr 2025 mehr Sterbefälle als Geburten verzeichnen. Die demografischen Daten deuten auf eine historische Wende hin, die nicht nur statistischen, sondern auch politischen und gesellschaftlichen Sprengstoff birgt. Der natürliche Bevölkerungssaldo, lange Zeit eine verlässliche Quelle für das Bevölkerungswachstum der Nation, steht vor der Negativwende – ein Ausdruck tiefgreifender struktureller Veränderungen.
Ein langfristiger Abwärtstrend bei der Geburtenrate
Die Zahl der Geburten in Frankreich sinkt seit Jahren kontinuierlich. Im Jahr 2024 wurden laut dem französischen Statistikamt Insee lediglich 663.000 Kinder geboren – ein Rückgang von 2,2 % gegenüber 2023. Noch alarmierender: Im Zeitraum von Januar bis Mai 2025 fiel die Zahl der Geburten gegenüber dem Vorjahreszeitraum um weitere 3,2 %. Die Entwicklung ist somit keine temporäre Schwankung, sondern ein struktureller Trend.
Zentraler Indikator für diese Entwicklung ist das sogenannte „indicateur conjoncturel de fécondité“ (ICF) – die zusammengefasste Geburtenziffer. Sie lag 2024 bei nur noch 1,62 Kindern pro Frau – dem tiefsten Stand seit dem Ersten Weltkrieg. Damit bleibt Frankreich zwar im europäischen Vergleich im oberen Mittelfeld, aber weit unterhalb des zur Bestandserhaltung nötigen Wertes von 2,1.
Die Gründe sind vielschichtig: wirtschaftliche Unsicherheiten, veränderte Rollenbilder und Lebensentwürfe, aber auch ein stetiger Trend zur späteren Elternschaft. Die durchschnittliche Erstgebärende ist heute über 30 Jahre alt. Laut Soziologen hat sich die Familienplanung bei vielen jüngeren Franzosen und Französinnen von einer Selbstverständlichkeit hin zu einer individuell abzuwägenden Option entwickelt.
Alterung der Gesellschaft und steigende Mortalität
Während die Geburtenrate sinkt, steigt zugleich die Zahl der Todesfälle – vor allem aufgrund der demografischen Alterung. Im Jahr 2024 verstarben in Frankreich rund 646.000 Menschen, 1,1 % mehr als im Jahr zuvor. Von Januar bis April 2025 lag die tägliche Sterberate im Durchschnitt sogar 4,3 % höher als im entsprechenden Zeitraum 2024.
Diese Entwicklung ist insbesondere auf die Nachkriegsgeneration – die sogenannten Babyboomer – zurückzuführen. Die geburtenstarken Jahrgänge zwischen 1946 und 1974 erreichen nun ein Alter, in dem das Sterberisiko signifikant ansteigt. In den kommenden Jahren wird dieser Effekt noch stärker spürbar werden, was Experten als „Tsunami gris“ – die graue Welle – bezeichnen.
Neben der demografischen Struktur spielen auch akute Faktoren eine Rolle: etwa schwere Grippewellen, Hitzesommer oder die Spätfolgen der Covid-19-Pandemie. Der Gesundheitsökonom Jean-Marie Robine weist zudem auf strukturelle Schwächen im französischen Gesundheitssystem hin, die sich angesichts der alternden Bevölkerung verschärfen könnten.
Ein drohender Kipppunkt mit politischen Folgen
2024 lag der natürliche Bevölkerungssaldo – also die Differenz zwischen Geburten und Todesfällen – nur noch bei +17.000 Personen. Zum Vergleich: In den frühen 2000er-Jahren betrug dieser Saldo teils über +200.000. Sollte sich der Trend aus dem bisherigen Jahresverlauf 2025 fortsetzen, ist erstmals ein negativer Wert zu erwarten – ein symbolträchtiger Wendepunkt.
Die Auswirkungen wären weitreichend: Ein negativer natürlicher Saldo bedeutet eine beschleunigte Alterung der Gesellschaft. Schon jetzt liegt der Median des Bevölkerungsalters in Frankreich bei rund 42 Jahren – Tendenz steigend. Daraus ergeben sich wachsende Belastungen für Rentenversicherung, Gesundheitssystem und Pflegeinfrastruktur.
Zugleich stellt sich die Frage, wie der Staat mit dieser Entwicklung umgeht. Eine mögliche Antwort wäre eine verstärkte Zuwanderungspolitik, um dem Arbeitskräftemangel zu begegnen. Doch Migration ist in Frankreich ein hochpolitisches Thema, das spätestens seit den Präsidentschaftswahlen 2022 stark polarisiert. Alternativ oder ergänzend könnten gezielte Maßnahmen zur Förderung der Familiengründung diskutiert werden – von steuerlichen Anreizen über subventionierte Kinderbetreuung bis hin zu einer umfassenden Reform des Elterngelds.
Frankreichs demografische Zukunft steht auf dem Prüfstand
Frankreichs bisheriger demografischer Vorteil – ein im europäischen Vergleich relativ hoher Anteil junger Menschen – scheint zu erodieren. Damit steht das Land an einem Wendepunkt, der nicht nur statistisch relevant ist, sondern auch wirtschaftliche und gesellschaftliche Implikationen mit sich bringt. Eine alternde Bevölkerung bedeutet weniger Erwerbstätige, geringeres Potenzialwachstum, höhere Sozialausgaben und veränderte politische Prioritäten.
Ob und wie Frankreich gegensteuern kann, wird entscheidend davon abhängen, ob es gelingt, die tiefgreifenden Ursachen der sinkenden Geburtenrate anzugehen und zugleich einen gesellschaftlichen Konsens über die Rolle von Zuwanderung und Generationengerechtigkeit herzustellen. Die demografische Uhr tickt – leise, aber unerbittlich.
Autor: Andreas M. Brucker
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