Tag & Nacht




Zartes Glockenläuten mischt sich mit dem Klackern unzähliger Rollkoffer. Duft von Crêpes schwebt über den Kopfsteinpflastergassen. Die Sonne glitzert auf den Kanälen, durch die sich Tretboote und Selfiesticks gleichermaßen drängen. Willkommen in Annecy – dem Postkartenidyll, das so schön ist, dass es fast daran zerbricht.

Denn was einst als Geheimtipp zwischen See und Alpen galt, ist heute Hotspot des europäischen Tourismus. Und das mit allen Nebenwirkungen.

Wenn die Idylle zur Belastung wird

Drei Millionen Besucher jährlich, fünf Millionen Übernachtungen – Zahlen, die nach Erfolg klingen. Doch Erfolg hat in Annecy seinen Preis. Die Altstadt, ein labyrinthischer Traum aus bunten Fassaden und Wasserläufen, wird im Sommer zur Bühne eines Massenspektakels: Menschentrauben, Staus aus Kinderwagen, Restaurants im Dauerbetrieb. Für die einen ein Ferienparadies, für die anderen: Alltagshölle.

Viele Einheimische berichten, dass sich ihr Leben in ein Slalomrennen verwandelt hat – zwischen Touristenströmen, Lärm, Müll und steigenden Mieten. Wer einfach nur einkaufen möchte, muss sich durch Fotospots und Straßencafés kämpfen. Das hat nichts mehr mit Urlaubsfreude zu tun – das ist urbane Überforderung.

Der Widerstand formiert sich

Still hinnehmen? Nicht in Annecy. Die ARVVA – die „Association des résidents de la vieille ville d’Annecy“ – lässt sich nicht länger wegdrücken wie eine unerwünschte Baustellenumleitung. Mit Protestaktionen, Transparenten über den Brücken und sogar Klagen gegen die Stadtpolitik machen die Bewohner ihrem Frust Luft. Besonders die Ausweitung von Restaurantterrassen ist ihnen ein Dorn im Auge.

Und es bleibt nicht beim Altstadtkern. Auch höher gelegene Orte wie der Col de la Forclaz schlagen Alarm: Von Balkonen fotografierende Besucher, überfüllte Parkplätze, Lärm bis tief in die Nacht – der Rückzugsraum schrumpft auch dort, wo einst Stille herrschte.

Lärmradar und Quotenregelung – die Stadt reagiert

Die Stadtverwaltung versucht zu handeln – aber trifft nicht immer ins Schwarze. Pädagogische Lärmradare im Zentrum sollen auf störende Geräuschkulissen aufmerksam machen. Doch viele Anwohner winken ab: gut gemeint, aber zahnlos gegen die Realität der Sommernächte.

Etwas handfester erscheint der Vorstoß gegen die ausufernde Kurzzeitvermietung à la Airbnb. Durch neue Gesetze auf nationaler Ebene können Städte wie Annecy Obergrenzen für Ferienwohnungen festlegen. Die Kommune nutzt diesen Spielraum, um die Quote auf maximal zehn Prozent in der Altstadt zu begrenzen – und verbietet Schlüsselboxen auf öffentlichem Grund. Das Ziel: Wieder mehr Wohnraum für Dauerbewohner schaffen und das Stadtbild schützen.

Balanceakt mit doppeltem Boden

Doch wie findet man das Gleichgewicht zwischen wirtschaftlichem Nutzen und Lebensqualität? Tourismus ist ein bedeutender Wirtschaftszweig, schafft Jobs und füllt die Stadtkasse. Gleichzeitig droht das soziale Gefüge zu kippen, wenn Einheimische verdrängt und ihre Bedürfnisse ignoriert werden.

Die Lage in Annecy verdeutlicht ein Dilemma, das viele beliebte Destinationen kennen: Der eigene Erfolg wird zum Bumerang. Orte wie Dubrovnik, Venedig oder Barcelona kennen diese Spirale – und suchen nach Wegen, wie „weniger“ wieder „mehr“ sein kann.

Ein Weckruf, kein Abgesang

Annecy steht exemplarisch für eine Zeitenwende im Tourismus. Die Frage ist nicht mehr, wie viele Menschen eine Stadt verkraften kann – sondern wie eine Stadt ihre Seele bewahren möchte. Braucht es Eintrittsgebühren, Besucher-Obergrenzen, gezielte Dezentralisierung? Vielleicht. Sicher ist nur: Wer die Schönheit eines Ortes wirklich liebt, darf nicht zu ihrer Zerstörung beitragen.

Das „Venise des Alpes“ will kein Freilichtmuseum werden. Aber will auch nicht untergehen in einer Flut aus Trolleys, Selfies und Lärm.

Autor: Andreas M. Brucker

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