In einem beispiellosen Schritt haben sich 550 ehemalige hochrangige israelische Sicherheitsbeamte – darunter Generäle, Geheimdienstchefs und Diplomaten – öffentlich gegen die derzeitige Gaza-Strategie der Regierung Netanjahu gestellt. Mit einem offenen Brief und einer Videobotschaft wenden sie sich am 4. August direkt an Donald Trump, in der Hoffnung, der US-Präsident könne als Vermittler Einfluss auf die Regierung in Jerusalem nehmen.
Israels militärisch-intellektuelles Establishment, versammelt unter dem Banner der Gruppe Commanders for Israel’s Security (CIS), verlangt nicht weniger als einen sofortigen Stopp der Kampfhandlungen in Gaza – nach über zwanzig Monaten Krieg. Vor allem jedoch verlangen sie eine diplomatische Lösung zur Heimkehr der israelischen Geiseln.
Strategischer Kurswechsel von innen
„Diese Krieg hat aufgehört, ein gerechter Krieg zu sein und führt dazu, dass Israel seine Identität verliert“, warnt Ami Ayalon, ehemaliger Direktor des Inlandsgeheimdienstes Shin Bet, in einem Video, das die Erklärung begleitet. Seine Worte fassen die zentrale Sorge der CIS-Initiative zusammen: der anhaltende Krieg sei strategisch ausgereizt, moralisch bedenklich und politisch gefährlich.
Die Unterzeichner – darunter drei Ex-Chefs des Mossad, fünf des Shin Bet und drei ehemalige Generalstabschefs – vertreten eine seltene Einigkeit im sicherheitspolitischen Establishment Israels. Ihre Einschätzung: Die israelische Armee habe die beiden militärisch erreichbaren Ziele bereits erfüllt – die Zerschlagung der Hamas-Regierung in Gaza sowie die weitgehende Zerschlagung ihrer militärischen Infrastruktur.
„Der wichtigste Kriegszweck ist ungelöst – und lässt sich nur diplomatisch erreichen“
Was aus ihrer Sicht jedoch weiterhin ungelöst bleibt, ist die Rückführung der Geiseln, die am 7. Oktober 2023 bei dem beispiellosen Hamas-Terrorüberfall verschleppt wurden. „Die Geiseln können nicht warten“, heißt es im Brief wörtlich. Die Zeit dränge, so der Appell, und die Jagd auf die verbliebenen Hamas-Kommandeure könne auch später fortgeführt werden – nicht aber das Leben der Entführten.
Hinter diesem Argument steht auch eine strategische Neubewertung des Hamas-Risikos. Die CIS hält fest: Die radikalislamische Organisation sei militärisch und politisch entmachtet und stelle „keine strategische Bedrohung“ mehr für Israel dar. Ein gezielter Kurswechsel in Richtung Diplomatie sei daher nicht nur moralisch geboten, sondern auch sicherheitspolitisch vertretbar.
Der Appell an Donald Trump – Kalkül oder Verzweiflung?
Bemerkenswert ist, an wen sich die Initiative richtet: an den republikanischen Präsidenten Donald Trump. Man appelliere an dessen „Glaubwürdigkeit bei der Mehrheit der Israelis“ und erinnere an seinen diplomatischen Einfluss während seiner ersten Amtszeit – etwa beim Rückzug Israels aus Südlibanon im Jahr 2000, auf den sie sich indirekt beziehen.
Dieser Adressat deutet auf eine komplexe politische Gemengelage hin: Während Premier Netanjahu zunehmend isoliert ist, genießt Trump bei weiten Teilen des rechten und national-religiösen Lagers in Israel nach wie vor hohes Ansehen. Die CIS hofft offenbar, Trump könnte in der innenpolitischen Pattsituation Druck auf den Premier ausüben – oder zumindest ein rhetorisches Gegengewicht zu dessen Linie bilden.
Wachsende Kritik auch im Inland
Die Initiative der CIS ist kein isolierter Ausbruch. Seit Monaten wächst in der israelischen Öffentlichkeit die Kritik am Fortgang des Krieges, insbesondere an der mangelnden Priorisierung der Geiselrückführung. Die Proteste der Angehörigen nehmen zu, auch aus dem Militär selbst werden kritische Stimmen laut.
Doch die Intervention von 550 ehemaligen Sicherheitsverantwortlichen markiert eine neue Eskalationsstufe – nicht zuletzt, weil sie die grundsätzliche strategische Erzählung der Regierung Netanjahu in Frage stellt: dass der Krieg gegen die Hamas bis zur „totalen Zerschlagung“ fortgeführt werden müsse, koste es, was es wolle.
Ob dieser Weckruf zu einer Kehrtwende in Israels Gaza-Politik führt, bleibt offen. Klar ist: Wenn selbst führende Architekten der israelischen Sicherheitsdoktrin einen Kurswechsel fordern, steht mehr auf dem Spiel als eine kurzfristige militärische Entscheidung. Es geht um die moralische und strategische Selbstvergewisserung des Staates Israel – und seine Fähigkeit, Sicherheit mit Maß und politischer Weitsicht zu verbinden.
Autor: P. Tiko
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