Tag & Nacht




Es gibt Tage, die erinnern uns daran, was wir zu oft für selbstverständlich halten. Der Europäische Tag der Sprachen am 26. September gehört dazu. Er ist kein gewöhnlicher Gedenktag, sondern ein Spiegel unserer Gesellschaft – und eine Art moralischer Kompass. Denn wer über Sprache spricht, spricht über Identität, Zugehörigkeit und Macht.

Europa ist ein Kontinent der Sprachen – und doch vergisst es das gern. In Straßburg und Brüssel werden Richtlinien formuliert, in 24 Amtssprachen übersetzt, in mehr als doppelt so vielen Sprachen diskutiert. Aber was davon dringt wirklich ins Bewusstsein der Bürgerinnen und Bürger? Wann wird Sprache nicht nur als Werkzeug, sondern als Teil unseres kulturellen Erbes wahrgenommen?

In Frankreich und Deutschland, zwei Ländern, die das Fundament der Europäischen Union mitgebildet haben, zeigt sich exemplarisch, wie zwiespältig der Umgang mit Sprache sein kann. Auf der einen Seite der Stolz auf Hochsprachen, auf gepflegte Grammatik und literarische Tradition. Auf der anderen Seite eine Realität, die sich mehrsprachig, hybrid und nicht selten widersprüchlich zeigt.

Frankreich: Einheit durch Sprache – oder Einfalt?

In Frankreich ist Sprache seit jeher mehr als nur Mittel zur Kommunikation – sie ist Symbol staatlicher Einheit. Die Revolution brachte nicht nur den Ruf nach Freiheit und Gleichheit, sondern auch den Anspruch, das Land sprachlich zu homogenisieren. Der Staat sprach fortan Französisch – und alle anderen sollten es auch.

Regionale Sprachen wie Bretonisch, Okzitanisch oder Korsisch blieben zwar bestehen, wurden aber jahrzehntelang marginalisiert. Die Republik kannte nur eine Sprache – alles andere galt als Relikt der Vergangenheit. Erst in den letzten Jahrzehnten begann ein zögerlicher Wandel: Anerkennung ja, Förderung eher verhalten. Noch immer ist es einfacher, in einem Pariser Lycée Latein zu lernen als Baskisch im Südwesten.

Dabei wäre gerade Frankreich mit seiner kolonialen Vergangenheit, seinen Überseegebieten und seiner globalen Diaspora prädestiniert, Sprachvielfalt nicht nur zu dulden, sondern zu leben. Aber wer die französische Debatte verfolgt, spürt, wie sehr Sprache dort mit Identität, ja mit Staatsraison verknüpft ist. Wer nicht „richtig“ spricht, wird allzu leicht als „nicht wirklich französisch“ betrachtet.

Deutschland: Sprachvielfalt ja – aber bitte geordnet

Deutschland gibt sich im Vergleich offener. Die föderale Struktur erlaubt es den Bundesländern, eigene Wege zu gehen. In Bayern wird bairisch gepflegt, in Sachsen-Anhalt plattdeutsch unterrichtet, in Berlin gibt es türkisch-deutsche Kitas. Die gesellschaftliche Wirklichkeit ist multilingual – und das ist gut so.

Doch auch hier herrscht Ambivalenz. Sprachen wie Arabisch, Kurdisch oder Russisch werden von Hunderttausenden Menschen gesprochen, finden aber kaum Eingang in den öffentlichen Diskurs. Stattdessen dominieren Integrationsdebatten, bei denen Sprache oft zum Prüfstein für Zugehörigkeit erklärt wird. „Wer hier lebt, muss Deutsch sprechen“ – dieser Satz fällt häufig, gern pauschal und selten differenziert.

Dabei wäre es doch eine Stärke, wenn Deutschland seine Sprachenvielfalt als Ressource begreift – nicht als Problem. Es geht nicht darum, Deutsch zu verdrängen, sondern darum, anderen Sprachen Raum zu geben: in der Schule, im Kulturbetrieb, in den Medien. Nur wer Sprache erlaubt, kann Integration fördern. Nur wer Sprache schützt, schützt Kultur.

Eine europäische Herausforderung

Frankreich und Deutschland stehen mit diesen Fragen nicht allein. In ganz Europa ringt man um den richtigen Umgang mit Sprache. Zwischen dem Stolz auf nationale Idiome und der Notwendigkeit globaler Verständigung. Zwischen dem Schutz seltener Sprachen und der Dominanz des Englischen.

Der Europäische Tag der Sprachen will daran erinnern: Sprache ist mehr als ein Werkzeug. Sie ist ein Gedächtnisraum, ein Spiegel der Geschichte, ein Mittel der Verständigung – aber auch der Ausgrenzung. Wer Sprache politisch denkt, muss sie gerecht denken.

Die Vision eines Europas der Sprachen ist keine romantische Utopie. Sie ist – ganz nüchtern – eine Bedingung für gesellschaftlichen Zusammenhalt. Denn nur wer gehört wird, gehört dazu. Und nur wer seine Sprache sprechen darf, wird sich als Teil eines Ganzen empfinden.

Vielleicht liegt genau darin die große Aufgabe unserer Zeit: Aus der Vielfalt der Sprachen keine Bedrohung, sondern ein Versprechen zu machen. Ein Versprechen auf ein Europa, das Unterschiede nicht glättet, sondern trägt. Und das in jeder Sprache sagt: Du bist willkommen.

Von C. Hatty

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