Noch bis vor wenigen Jahren galt es als nahezu ausgeschlossen, dass ein französischer Präsident oder Minister für finanzielle Verfehlungen ernsthaft juristisch belangt würde. Die Fünfte Republik, mit ihren präsidial geprägten Machtstrukturen und einem tief verwurzelten politischen Korporatismus, schien immun gegenüber dem Zugriff der Justiz. Zwar war der Begriff der „Affaire“ fest im politischen Vokabular Frankreichs verankert, doch strafrechtliche Konsequenzen blieben zumeist symbolisch oder wurden in juristischen Grauzonen versenkt. Inzwischen aber hat sich die Dynamik verschoben – still, aber unübersehbar. Spätestens mit der Verurteilung Nicolas Sarkozys zu fünf Jahren Haft, darunter eine mehrjährige Gefängnisstrafe ohne Bewährung, ist ein Damm gebrochen. Der einstige mächtige Mann, der einst im Élysée-Palast residierte, steht nun exemplarisch für den Bruch eines stillschweigenden Pakts zwischen Macht und Straffreiheit.
Dass Jacques Chirac bereits 2011 wegen der Veruntreuung öffentlicher Gelder in seiner Zeit als Pariser Bürgermeister zu einer Bewährungsstrafe verurteilt wurde, war damals ein Novum – aber eher ein später Akt politischer Abrechnung denn ein Präzedenzfall mit Folgen. Die Verurteilung Sarkozys hingegen, in einem hochkomplexen Verfahren um mutmaßliche libysche Wahlkampfhilfe, markiert eine Zäsur: Zum ersten Mal wurde ein Präsident der Fünften Republik für eine im Amt begangene Straftat zu einer Haftstrafe verurteilt, die auch vollstreckt werden soll. Dass dies nicht mehr als Skandal empfunden, sondern als späte Gerechtigkeit verstanden wird, zeugt von einem Wandel im gesellschaftlichen Bewusstsein.
Die Liste politischer Persönlichkeiten, die in Frankreich wegen finanzieller Vergehen oder Amtsmissbrauchs verurteilt wurden, ist lang. Kaum ein Jahrzehnt seit den 1990er Jahren ist vergangen, ohne dass ein Minister, Staatssekretär oder anderer hoher Funktionär juristisch zur Rechenschaft gezogen wurde. Der ehemalige Haushaltsstaatssekretär Jérôme Cahuzac etwa wurde 2016 zu einer zweijährigen Haftstrafe verurteilt, nachdem er jahrelang Auslandskonten verschleiert und seine Vermögensverhältnisse falsch angegeben hatte. Der Fall traf die damalige Regierung Hollande ins Mark, galt Cahuzac doch als Symbol für fiskalische Strenge und moralische Erneuerung. Ähnlich gelagerte Fälle wie jene von François Léotard, Alain Griset oder Claude Guéant zeigen, dass finanzielle Irregularitäten in politischen Spitzenämtern nicht die Ausnahme, sondern die Regel zu sein scheinen.
Diese Verfahren folgen einem Muster, das tief in der politischen Kultur der Republik verwurzelt ist. Lange schützte das institutionelle Gefüge die Verantwortlichen vor juristischer Aufarbeitung. Die Immunität des Präsidenten, das spezielle Verfahren der Cour de justice de la République für Ministerdelikte oder schlicht die politische Kontrolle über Staatsanwaltschaften wirkten wie Schutzschilde gegen zu viel juristische Neugier. Hinzu kam eine politische Elite, die sich vielfach als Stand begreifen durfte – ausgestattet mit eigenen Regeln und einem impliziten Anspruch auf Straflosigkeit.
Doch dieses Modell verliert an Legitimität. Die Einrichtung des Parquet national financier (PNF) im Jahr 2014, einer spezialisierten Finanzstaatsanwaltschaft mit eigenem Ermittlungsapparat, hat das Kräfteverhältnis zwischen Politik und Justiz nachhaltig verschoben. Inzwischen ist es nicht mehr ungewöhnlich, dass Ermittlungen gegen aktive Minister oder ehemalige Präsidenten eingeleitet, durchgezogen und mit Urteilen abgeschlossen werden. Die Justiz hat ihre politische Zurückhaltung abgelegt – sie ist nicht mehr nur dekoratives Element der Republik, sondern operativ handlungsfähig.
Und dennoch bleibt ein schaler Beigeschmack. Viele der verhängten Strafen – selbst bei nachgewiesenem systematischem Fehlverhalten – wurden zur Bewährung ausgesetzt, durch elektronische Fußfesseln ersetzt oder in Symbolik aufgelöst. Die öffentliche Wahrnehmung oszilliert daher zwischen Genugtuung und Skepsis. Ist die Justiz tatsächlich unabhängig und konsequent – oder handelt es sich um ein kalkuliertes Maß an Strenge, das dem System nicht wirklich gefährlich wird? Die Grenzen zwischen Rechtsstaat und Inszenierung sind mitunter fließend.
Was sich allerdings unbestreitbar geändert hat, ist die gesellschaftliche Erwartungslage. In einer Zeit wachsender populistischer Kritik an politischen Eliten, steigender sozialer Ungleichheit und sinkenden Vertrauens in Institutionen kann es sich ein demokratischer Staat nicht mehr leisten, eigene Regeln nur selektiv durchzusetzen. Die Strafverfolgung gegen ehemalige Präsidenten oder Minister ist längst mehr als ein juristischer Akt – sie ist eine Bewährungsprobe für die republikanische Idee selbst geworden.
Frankreich, das sich so gerne als Wiege der Rechtsstaatlichkeit versteht, ringt mit seiner eigenen politischen Realität. Die Justiz hat begonnen, das Terrain zurückzuerobern, das sie jahrzehntelang der Politik überlassen musste. Ob dies zu einer langfristigen Kultur der Rechenschaft führt, ist offen. Sicher ist nur: Die Ära der automatischen Immunität ist vorbei. Und das ist gut so.
Autor: Andreas M. Brucker
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