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Frankreich lässt sich heute schwerlich als eindeutig „linkes“ oder „rechtes“ Land einordnen. Zu tiefgreifend haben sich die politischen Koordinaten seit der Gründung der Fünften Republik verschoben, zu volatil ist die parteipolitische Landschaft geworden. Was bleibt, ist ein demokratischer Schauplatz, auf dem sich ideologische Lager neu formieren, Allianzen zerfallen und politische Ränder erstarken.

Die Frage, ob Frankreich eher nach links oder nach rechts tendiert, verfehlt in gewisser Weise die Realität. Vielmehr handelt es sich um ein politisches Gefüge, das sich in permanenter Neujustierung befindet – geprägt von einem wachsenden Zentrum, einer geschwächten Linken und einer zunehmend präsenten Rechten.


Ein historischer Kompass mit verblasster Nadel

Der Ursprung der Begriffe „links“ und „rechts“ liegt in der Französischen Revolution: Damals saßen progressive Kräfte links vom Präsidenten der Nationalversammlung, konservative Vertreter rechts. Diese symbolische Ordnung hat sich über Jahrhunderte hinweg erhalten, wurde aber in Frankreich – einem Land mit tief verwurzelter politischer Streitkultur – zunehmend komplexer.

In der Fünften Republik, die 1958 unter Charles de Gaulle gegründet wurde, prägten wechselnde Mehrheiten das Regierungshandeln. Doch die klassische Alternanz zwischen sozialistischer Linker und bürgerlicher Rechter wurde spätestens mit dem Aufstieg Emmanuel Macrons 2017 durchbrochen. Der ehemalige Wirtschaftsminister unter François Hollande formierte mit La République en Marche (heute Renaissance) ein zentristisches Lager, das sich sowohl aus konservativen als auch progressiven Strömungen speiste – ein Bruch mit dem traditionellen Parteiensystem.


Fragmentierung statt Lagerbildung

Die vorgezogenen Parlamentswahlen 2024 haben deutlich gemacht, wie sehr sich das politische System Frankreichs ausdifferenziert hat. Weder das linke Lager noch die rechte oder zentristische Mitte konnten eine absolute Mehrheit erringen. Zwar wurde der rechtsextreme Rassemblement National (RN) mit 33 % der Stimmen zur stärksten Einzelkraft, doch verhinderte eine breite republikanische Front seine Regierungsübernahme.

Die neu gegründete Linksallianz Nouveau Front Populaire wurde mit 182 Sitzen zur stärksten Fraktion in der Nationalversammlung – allerdings ohne eigene Mehrheit. Präsident Macron, dessen Renaissance-Partei nur an dritter Stelle landete, sieht sich seither mit einer instabilen parlamentarischen Lage konfrontiert. Die Exekutive regiert mittels wechselnder Koalitionen, teils durch Anwendung von Artikel 49.3 der Verfassung, der Gesetzesverabschiedungen ohne Parlamentsvotum erlaubt. Die Folge: ein zunehmend fragiler politischer Betrieb mit wechselnden Mehrheitsverhältnissen.

Diese Entwicklungen stehen exemplarisch für einen strukturellen Wandel: Frankreich ist kein Zwei-Lager-System mehr, sondern ein politisches Kaleidoskop mit mehreren Machtzentren und hoher Volatilität.


Thematische Widersprüche: Zwischen Etatismus und Identitätspolitik

Die französische Wählerschaft zeigt sich ideologisch keineswegs einheitlich. In Fragen der Sozialpolitik – etwa hinsichtlich Umverteilung, Renten oder öffentlicher Daseinsvorsorge – dominiert vielfach ein staatsgläubiger, eher linker Grundkonsens. Frankreich gibt rund 31 % seines BIP für Sozialausgaben aus – einer der höchsten Werte in der OECD.

Gleichzeitig herrscht in Fragen der inneren Sicherheit, der Migration oder nationalen Identität eine zunehmend rechte Stimmungslage. Die Debatten um laizistische Prinzipien, islamistische Radikalisierung oder Kriminalität in den Banlieues werden stark durch rechte Narrative geprägt – was dem RN einen Resonanzraum eröffnet, den er strategisch nutzt.

Diese thematische Spaltung lässt sich auch parteipolitisch beobachten: Während die Linke insbesondere im sozialen Bereich Anschluss findet, dominiert die Rechte beim Thema Sicherheit. Das politische Zentrum versucht, beide Anliegen zu integrieren, verliert dabei aber zunehmend an Profil und Glaubwürdigkeit.


Der institutionelle Rahmen als Verstärker

Frankreichs politische Architektur trägt zur gegenwärtigen Instabilität bei. Die starke Stellung des Präsidenten – mit weitreichenden Vollmachten in Außen- und Verteidigungspolitik – steht einer zunehmend fragmentierten Legislative gegenüber. Der Präsident wird in direkter Wahl bestimmt, was ihm eine eigene demokratische Legitimation verleiht. Die Parlamentswahlen hingegen spiegeln ein vielfältigeres Bild gesellschaftlicher Präferenzen wider.

Zugleich begünstigt das Zwei-Runden-Wahlsystem taktische Allianzen und Blockaden. Besonders auffällig: Der sogenannte front républicain – das parteiübergreifende Bündnis zur Verhinderung eines Wahlsiegs des RN – hat sich mehrfach als wirksames Bollwerk erwiesen. Doch sein Fundament bröckelt: Immer mehr Wählerinnen und Wähler empfinden solche Zweckbündnisse als undemokratische Machterhaltungsstrategie und wenden sich in der Folge radikalen und populistischen Parteien zu.


Frankreichs politische Identität ist im Wandel. Der Versuch, das Land entlang der klassischen Achse links–rechts zu verorten, greift zu kurz. Vielmehr zeigen sich Tendenzen zu einem „dritten Weg“, flankiert von einer wachsenden Polarisierung an den Rändern. Der zentristische Kurs Emmanuel Macrons hat das Parteiensystem durchlässiger, aber auch instabiler gemacht. Die Linke versucht, durch neue Bündnisse wieder Anschluss zu finden, während das Rassemblement National sich zunehmend als „legitime“ Volkspartei inszeniert.

Ob Frankreich langfristig eher nach rechts oder nach links tendiert, wird weniger von ideologischer Kohärenz als von der Fähigkeit zur Regierungsbildung und zum Kompromiss abhängen. Eindeutig ist derzeit nur eines: Die politische Landschaft Frankreichs ist vielfältig, fragil – und offen wie selten zuvor.

Autor:Andreas M. Brucker

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