Tag & Nacht


Das Mittelmeer zeigt seine raue Seite. Nach wochenlangem Sonnenschein rollt nun eine ungewöhnlich heftige Wellenfront über den Süden Frankreichs hinweg. Von Marseille bis zu Saintes-Maries-de-la-Mer warnen Behörden vor gefährlichen Meeresbedingungen – und die Küstenbewohner erleben, wie schnell sich die Idylle des Spätsommers in ein aufgewühltes Herbstszenario verwandeln kann.

Noch vor wenigen Tagen sonnten sich Urlauber auf den Stränden, Kinder planschten im seichten Wasser, Segelboote glitten gemächlich über die glatte See. Heute peitschen Wellen gegen Hafenmauern, dunkle Wolken hängen über dem Golf du Lion, und die Behörden schlagen Alarm.

Ein Wetterumschwung? Von wegen.

Die Rede ist von einem ausgewachsenen Tiefdruckgebiet mit starkem Seegang, gefährlicher Brandung und Sturmgefahr – einem Phänomen, das zwar selten, aber nicht ganz unbekannt ist. Es trifft die Region mit einer plötzlichen Vehemenz, die selbst erfahrene Küstenbewohner in Alarmbereitschaft versetzt.

Surfer im Rausch – Spaziergänger in Gefahr

Während Spaziergänger sich in ihre Jacken kuscheln und Passanten gebannt auf die wütende See starren, wittern andere ihre Chance: Surfer. „Wenn’s Wellen gibt, sind wir draußen. Das kommt hier nicht oft vor“, ruft einer von ihnen, bevor er sich aufs Brett schwingt. Ein anderer ergänzt grinsend: „Die Sturmlage bringt perfekte Bedingungen – solange man heil durchkommt.“

Doch nicht jeder geht so unbeschwert mit der Naturgewalt um. Die Präfektur hat bereits eine eindringliche Warnung veröffentlicht: Keine Ausfahrten auf See, höchste Vorsicht an der Küste. Die Gefahr von Überschwemmungen und plötzlichen Rückströmungen sei akut. Besonders tückisch: die sogenannten „traîtres vagues“, heimtückische Wellen, die aus dem Nichts kommen und mit voller Wucht alles mitreißen, was ihnen im Weg steht.

Ein Spaziergänger erinnert sich: „Letztes Jahr sind wir bei so einem Wetter noch schwimmen gegangen. Heute weiß ich – das war lebensgefährlich. Die Strömung kann einen einfach ins offene Meer ziehen.“

Häfen auf Alarmstufe Rot

In den Häfen herrscht hektische Betriebsamkeit. Festmacher werden doppelt gesichert, Boote umgelegt, E-Mails an alle Freizeitkapitäne verschickt. „Wir haben heute Morgen alle Bootsbesitzer informiert – sie sollen ihre Leinen prüfen und sicher vertäuen“, erklärt Christophe Canado, Direktor des Port Gardian. Man überlässt nichts dem Zufall.

Denn was jetzt noch nach unruhigem Herbstwetter aussieht, könnte sich in den kommenden Tagen zu einem handfesten Sturm auswachsen. Besonders der Donnerstag (23. Oktober) bereitet Meteorologen Kopfzerbrechen.

Sturmtief voraus – und kein Einzelfall

„Die Lage wird sich verschärfen“, warnt Pierre Huat von Weather Solutions. „Für Donnerstag rechnen wir mit einem ausgewachsenen Sturm. Dann wird auch die Warnstufe deutlich steigen.“ Die Zeichen stehen auf Herbst – und das mit voller Kraft. Die meteorologische Entwicklung sei typisch für die Übergangszeit, aber in ihrer Intensität nicht alltäglich.

Der Oktober ist bekannt für seine Wetterkapriolen. Und er ist gleichzeitig ein kritischer Monat für die Natur: Der Regen füllt die knappen Grundwasserspeicher, die sich über den Sommer geleert haben. Auch wenn Regen und Sturm nicht willkommen scheinen – sie erfüllen eine wichtige Funktion im Jahreskreislauf.

Doch die Menschen an der Küste spüren vor allem eines: Respekt.

Eine Frage der Perspektive

Die einen freuen sich über die Wellen, die anderen fürchten sie. Was für Surfer ein Naturspektakel ist, ist für Hafenarbeiter, Spaziergänger und Einsatzkräfte eine ernste Herausforderung. Hier zeigt sich, wie unterschiedlich der Mensch mit den Launen der Natur umgeht – und wie wichtig es ist, ihre Macht nicht zu unterschätzen.

Denn das Meer vergisst nicht.

Wer zu nah ans Ufer tritt, kann im nächsten Moment von einer Welle erfasst werden. Wer das Risiko ignoriert, bringt sich und andere in Gefahr.

Und was jetzt?

Die Warnungen bleiben in Kraft. Vorerst soll sich die Lage über das Wochenende hinweg kaum beruhigen. Für viele bedeutet das: Fenster schließen, Boote sichern, Küsten meiden. Für andere: Neoprenanzug anziehen, Brett schnappen, auf die perfekte Welle warten.

Wie so oft an der Mittelmeerküste entscheidet der Blickwinkel darüber, ob ein Wetterumschwung als Bedrohung oder als Gelegenheit wahrgenommen wird.

Doch eines steht fest: Der Herbst ist angekommen – und mit ihm ein ungezähmtes, aufgewühltes Mittelmeer.

Autor: Andreas M. B.

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