Man sagt, wer auf dem Mont d’Or steht, sieht halb Frankreich und einen guten Teil der Schweiz. Vielleicht ist das übertrieben – aber wer einmal dort oben war, weiß, warum sich solche Geschichten halten. Zwischen den schroffen Felsen und den sanft geschwungenen Weiden des Haut-Doubs entfaltet sich eine Landschaft, die sich nicht einfach beschreiben lässt. Man muss sie spüren: den Wind, der über die Grate pfeift, das Rascheln des Herbstlaubs, den Geruch von feuchtem Holz und kaltem Käse.
Der Mont d’Or ist kein Gipfel, der sich mit reißerischem Pathos ins Gedächtnis brennt. Er ist leiser, fast demütig. Mit seinen gut 1.460 Metern wirkt er eher wie ein langgestreckter Rücken, der sich vorsichtig an die Wolken lehnt. Doch seine Schönheit liegt gerade in dieser Sanftheit.
Der Aufstieg über die Crêtes
Der Weg hinauf beginnt unscheinbar. Ein schmaler Pfad, der sich durch Weiden und Nadelwälder schlängelt, begleitet vom Läuten der Kuhglocken. Dann wird es steiler. Der Himmel weitet sich, die Luft wird klarer. Und plötzlich – steht man oben.
Ein paar Meter weiter öffnet sich der Blick auf ein Panorama, das fast unwirklich erscheint: Im Osten die Alpen, schimmernd wie eine ferne Illusion; im Westen das Jura, wellig, gedämpft, vertraut. An Tagen ohne Dunst reicht der Blick bis zum Mont-Blanc, dessen weiße Kappe über der Erde schwebt wie eine Verheißung.
Eine Familie aus Besançon steht staunend auf der Plattform, die Haare zerzaust vom Wind. „Schau mal, wie sich das Licht verändert“, ruft die Tochter, „das sieht ja aus wie gemalt!“ Der Vater nickt still – und für einen Moment scheint die Zeit stillzustehen.
Sieben Kilometer dauert die Wanderung entlang der Crêtes, vorbei an grasenden Schafen, kleinen Holzschuppen und Weiden, die im Herbst in tausend Farben leuchten. „C’est trop beau“, ruft jemand, und man versteht sofort, dass hier keine Übertreibung im Spiel ist.
Zwischen Wildnis und Handwerk
Im Doubs lebt man mit den Jahreszeiten, nicht gegen sie. Wer sich auf den Mont d’Or einlässt, begegnet dieser Ruhe auf Schritt und Tritt. Und doch schlägt das Herz der Region kräftig, besonders in den kleinen Dörfern rund um Métabief und Mouthe.
Hier bereitet man sich schon im Herbst auf den Winter vor. Fanny, eine junge Skilehrerin mit Sonnenbrand auf der Nase, zeigt Touristen das „ski-roue“, eine Art Sommertraining auf Rollen. „Man bleibt in Bewegung“, sagt sie lachend, „und die Beine vergessen den Winter nicht.“
Ringsum dehnen sich Wälder und Almwiesen, durchzogen von klaren Bächen. Wer einen Moment innehält, hört das ferne Rauschen der Quelle des Doubs – dieser Fluss, der der Region ihren Namen gibt und an manchen Stellen so geheimnisvoll aus der Erde tritt, dass man fast an Märchen glaubt.
Im Sommer schwimmt man im Lac de Saint-Point, im Herbst spaziert man durch das Farbenspiel der Wälder. „Hier ändert sich alles, aber auf eine sanfte Weise“, sagt ein alter Bauer. „Nie abrupt, immer mit Gefühl.“
Der Käse, der den Namen des Berges trägt
Wer „Mont d’Or“ sagt, meint oft nicht den Gipfel, sondern den Käse. Ein runder Laib, cremig und weich, in Rinde von Fichtenholz gebettet – so duftet er nach Wald, nach Rauch, nach Zuhause. Seit Jahrhunderten wird er hier im Haut-Doubs hergestellt, aus der Milch jener Kühe, die an den Hängen des Mont d’Or grasen.
Im kleinen Dorf Les Longevilles-Mont-d’Or steht Fabien in seiner Küche. Auf dem Herd blubbert ein Topf, in der Ecke ein Stück Comté, daneben die runden, hellen Kisten des Mont d’Or. „C’est le moment“, sagt er, und bohrt mit geübter Hand ein Loch in den Käse. Ein Schuss Vin du Jura, ein paar Scheiben Knoblauch – und schon duftet der ganze Raum.
Diese Version, warm, goldgelb und leicht zerlaufen, wird mit Kartoffeln und Charcuterie serviert. „Il a du goût“, meint ein Besucher aus Nancy, „et il tient chaud au cœur.“ Genau darum geht es: um Wärme, um dieses Gefühl, das von innen kommt, wenn draußen der Wind über die Jurakämme zieht.
Fabien wagt sich auch an Neues: eine Mousse de Mont d’Or auf einem leichten Gemüsevelouté, garniert mit knuspriger Tuile de Morteau. „Das ist unsere Art, Tradition lebendig zu halten“, sagt er. „Nichts versteinern – immer weiter erfinden.“
Der Mont d’Or als Seele des Doubs
Vielleicht ist der Mont d’Or deshalb so besonders: weil er beides verkörpert – die Ruhe der Natur und die lebendige Kraft der Menschen, die hier leben.
In Métabief sitzt man abends auf der Terrasse eines kleinen Gasthauses, das Holz knarzt, die Gläser klirren. Draußen leuchtet der Himmel in dunklem Orange, und irgendwo muht eine Kuh träge. Eine Frau aus Pontarlier sagt: „Hier oben hat man das Gefühl, dass die Zeit sich dehnt. Nicht stillsteht, aber langsamer läuft.“
Was sucht man, wenn man auf einen Berg steigt? Aussicht? Ruhe? Eine Art von Wahrheit? Vielleicht alles zusammen. Der Mont d’Or antwortet nicht mit Spektakel, sondern mit stiller Geste. Mit einem Licht, das die Landschaft streichelt, statt sie zu blenden. Mit einer Weite, die nicht einschüchtert, sondern atmen lässt.
Und wenn man am Ende des Tages unten im Tal sitzt, mit einem Glas Vin jaune und einem Teller dampfender Mont d’Or-Kartoffeln, dann begreift man: Dieser Berg ist kein Ziel, sondern eine Stimmung.
Ein Gefühl aus Holz, Wind und Wärme.
Ein Artikel von M. Legrand
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