Tag & Nacht


Der Wind über den Hügeln von Cargèse riecht nach Salz – und Nachdenklichkeit. Zwischen den weißen Grabsteinen liegt ein Ort, der längst zum Symbol geworden ist – das Grab von Massimu Susini. Sein Name hallt über die Insel wie ein Echo, das nicht mehr verklingen will. 2019 wurde der junge Korsen erschossen – mitten am Tag, vor seiner Paillotte. Zwei Kugeln, zwei Sekunden – und ein Schuss, der eine Bewegung in Gang setzte, die heute, sechs Jahre später, durch ganz Korsika zieht.

An diesem Samstag, dem 15. November 2025, versammeln sich in Ajaccio und Bastia wieder Menschen auf den Straßen. Transparente, Stimmen, Tränen. „Maffia nò, a vita iè!“ – Nein zur Mafia, ja zum Leben. Es klingt fast wie ein Gebet, eine Beschwörung, ein Stück Selbstachtung. Zum ersten Mal seit Langem spricht die Insel laut aus, was sie so lange verschwiegen hat.


Schatten über einer schönen Insel

„La Corse est un théâtre d’ombres“ – Korsika ist ein Schattentheater. Der Satz fällt leise, fast wie ein Geständnis. Jean-Toussaint Plasenzotti, der Onkel des ermordeten Massimu, steht am Grab seines Neffen, die Hände tief in den Taschen, und schaut aufs Meer. „Sie haben geglaubt, sie könnten das Problem mit zwei Kugeln lösen. Aber sie haben nicht verstanden, dass sie damit etwas in Bewegung setzen.“

Der Schmerz ist persönlich, doch der Kampf längst politisch. Aus der Trauer um Massimu entstand ein Kollektiv, das seinen Namen trägt. Kein Verein aus Aktivisten, sondern eine Bewegung aus Bürgern, die sagen: Genug.

Plasenzotti sagt: „Das sind keine Fremden, die uns bedrohen. Das sind unsere eigenen Leute. Unsere Nachbarn. Unsere Cousins. Unsere alten Schulfreunde.“
Ein bitterer Gedanke, der trifft. Denn auf Korsika verschmilzt der Alltag mit den Schatten – Geschäfte, Bauunternehmen, Immobilien. Wo das Geld fließt, wächst die Angst. Und Schweigen wird zur Währung.


Der Preis des Schweigens

Léo Battesti, einst im FLNC, heute Sprecher des Kollektivs Maffia nò, a vita iè, beschreibt die Lage mit klaren Worten: „Der Drogenhandel ist nur die Spitze. Das eigentliche Geschäft läuft über Bauprojekte, Reedereien, Transportfirmen. Da wird gewaschen, verschoben, gedealt – aber elegant, im Anzug.“

Er erzählt von verbrannten Booten in Saint-Florent – vier Stück allein in diesem Jahr. Zufälle? Wohl kaum. „Wer sich weigert mitzumachen, zahlt. Entweder mit Geld oder mit Angst.“

Die Mafia auf Korsika hat längst kein Gesicht mehr wie aus alten Filmen. Sie trägt Anzug, spricht Französisch und benutzt das Smartphone wie ein Politiker. Sie verleiht, sie kauft, sie droht – mit einem Lächeln.
Und die Opfer? Meist sind es kleine Unternehmer, Bürgermeister, Menschen mit Rückgrat. Wie David Brugioni, ehemaliger Bürgermeister von Centuri, der sich erinnert: „Ein Immobilienmakler bot mir 5.000 Euro an. Einfach so, für mich. Als ich fragte warum, sagte er: ‘Du brauchst doch Geld für die Uni deiner Kinder.’“

Er lacht bitter. „Das war keine Freundlichkeit. Das war eine Einladung, Teil des Spiels zu werden.“


Die Insel im Würgegriff

„Stellen Sie sich vor“, sagt Battesti, „Sie sind Bürgermeister an der Küste. Ein Grundstücksentscheid, und der Preis steigt um das Zweihundertfache. Der Druck ist unvorstellbar.“
Wer da „nein“ sagt, bekommt Besuch – oder es brennt ein Feuer.

„Die Mafia ist wie ein Krake“, meint Plasenzotti. „Ihre Arme sind überall – in den Häfen, in den Rathäusern, in den Cafés.“ Und doch – es gibt Risse im System. Die Menschen haben begonnen, über das Unsagbare zu reden.

In Ajaccio sieht man neuerdings Sticker an Laternenmasten: « Maffia nò, a vita iè ». Kein großer Akt, aber ein Zeichen. Und Zeichen sind gefährlich, wenn sie anfangen, sich zu vermehren.


Zwischen Mut und Angst

Warum jetzt? Warum erst jetzt? Vielleicht, weil zu viele Morde geschehen sind. Vielleicht, weil die Jungen keine Lust mehr auf das Schweigen der Alten haben. Oder weil sich die Insel, die immer stolz auf ihre Unabhängigkeit war, endlich eingestehen muss, dass die Freiheit Korsikas nicht nur gegen Paris, sondern auch gegen die eigenen Dämonen verteidigt werden muss.

Ein Lehrer in Bastia sagt: „Meine Schüler schreiben heute Texte über Mut. Vor zehn Jahren hätten sie das nie getan.“
Korsika, diese raue, schöne Insel, ringt mit sich selbst – und mit einer Frage, die größer ist als sie: Wie heilt man eine Gesellschaft, die sich selbst fürchtet?


Die Justiz zieht nach

Die französische Justiz hat erkannt, dass der Kampf gegen die korsische Mafia kein gewöhnlicher Fall ist. Seit 2025 gibt es auf der Insel einen eigenen regionalen Antikriminalitäts-Pool – einzigartig in Frankreich.
Jean-Philippe Navarre, der Staatsanwalt von Bastia, beschreibt seine Mission so: „Wir wollen nicht mehr warten, bis ein Mord passiert. Wir wollen vorher verstehen, wo die Fäden laufen.“

Er spricht von Kartographien der Macht, von Netzwerken, die man sichtbar machen will. „Wir greifen den zweiten und dritten Kreis an – die Komplizen, die stillen Mitwisser, die Geschäftspartner. Ohne sie existiert keine Mafia.“

In seinem Büro hängt ein Foto von einem Graffiti: „Navarre, la valise ou le cercueil“ – der Koffer oder der Sarg. Er sagt, das erinnere ihn jeden Morgen daran, warum er nicht aufgeben darf.


Das Aufwachen der Gesellschaft

Die Bewegung wächst. Schulen, Gewerkschaften, Künstler, sogar Priester beteiligen sich an Diskussionen, Lesungen, Mahnwachen. In Cargèse wurde kürzlich ein Wandbild enthüllt – es zeigt Massimu Susini mit weit geöffneten Augen, als würde er sagen: „Ich sehe euch.“

Viele junge Korsen sagen, sie hätten genug von der „Kultur des Cousinats“. Ein Student in Corte bringt es auf den Punkt: „Ehre ist nicht, zu schweigen. Ehre ist, zu reden.“
Vielleicht ist das der wahre Wendepunkt – wenn Schweigen keine Tugend mehr ist.


Korsika zwischen Zorn und Hoffnung

Natürlich, das alles geht nicht von heute auf morgen. Noch immer fürchten sich viele, den Mund aufzumachen. Noch immer laufen Ermittlungen ins Leere. Noch immer herrscht Angst. Aber – und das ist neu – es gibt Widerstand.

Ein alter Mann in Ajaccio fasst es bei der Demo so zusammen: „Früher hatte ich Angst, jetzt hab ich Enkel. Und die sollen frei leben.“

Was, wenn genau das der Anfang einer neuen korsischen Identität ist? Einer, die Stolz nicht mehr mit Schweigen verwechselt, sondern mit Verantwortung?
Korsika kämpft, ja – aber vielleicht zum ersten Mal in seiner Geschichte gegen den richtigen Feind: sich selbst.

Ein Artikel von M. Legrand

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