Tag & Nacht


Die Nachricht schlug in der französischen Tourismuswelt ein wie eine herbstliche Sturmfront über der Atlantikküste. Wieder hat die kleine, windschnittige Insel Oléron einen der Großen in die Schranken gewiesen. Dieses Mal traf es die Buchungsplattform Booking.com, die vor dem Tribunal judiciaire de La Rochelle wegen fehlender Erhebung und Abführung der Taxe de séjour verurteilt wurde – jener lokalen Abgabe, die seit jeher zur stillen Lebensader vieler touristischer Gemeinden gehört.
Und plötzlich steht ein vermeintlich trockenes Steuerverfahren im Rampenlicht.

Der Streit begann nicht erst gestern. In den Rathäusern der französischen Küstenorte wurde schon lange gemunkelt, dass Plattformen, die Millionen Übernachtungen vermitteln, im Alltag kaum belastbar nachvollziehbar machten, wie die fällige Tourismusabgabe erhoben wird. In Oléron, wo die Wege kurz sind und die Hoteliers ihre Gäste noch beim Vornamen kennen, wuchs der Frust. Zu viele Transaktionen schienen an den Gemeindekassen vorbeizurauschen. Also griff die Community de communes de l’île d’Oléron durch – und zwar konsequent.

Das Gericht verurteilte Booking dazu, mehr als eine halbe Million Euro an die Inselgemeinde zu zahlen. Manche Quellen nennen rund 574.000 Euro, andere sprechen von 504.000 Euro. Für die Verantwortlichen auf der Insel sind das Summen, die über die Zukunft ihrer touristischen Infrastruktur entscheiden. Im Gespräch mit einem Kommunalbeamten, der sich an frühere Saisons erinnerte, fiel ein Satz, der sinnbildlich für die Aufregung steht: „Wir können hier nicht gegen Windmühlen kämpfen – die Plattformen müssen sich an dieselben Regeln halten wie unsere lokalen Vermieter.“

Oléron hat Erfahrung mit diesen Auseinandersetzungen. Airbnb wurde bereits zu mehreren Millionen Euro verurteilt, Le Bon Coin zu mehr als 400.000 Euro – jeweils, weil die Abgabe nicht korrekt eingezogen oder gemeldet wurde. Das Vorgehen der Insel erinnert an einen mühsamen, aber wortwörtlich standhaften Küstenschutz. Man verteidigt nicht Sanddünen gegen Stürme, sondern eine regionale Steuerbasis gegen digitale Verwerfungen. Es ist eine Art fiskalischer Deichbau.

Warum also ist diese Abgabe plötzlich ein Politikum? Die Taxe de séjour wirkt unscheinbar – ein paar Euro pro Nacht, von Urlaubern kaum wahrgenommen. Und doch ist sie für viele Gemeinden das, was Ebbe und Flut für die Austernzüchter der Region bedeuten: ein verlässlicher Rhythmus, der das lokale Leben ermöglicht. Aus ihr finanziert man Wegweiser für Radwege, Beleuchtung entlang der Häfen, Personal in den Touristenbüros und Veranstaltungen, die die Insel auch außerhalb der Hochsaison lebendig halten. Fehlt dieses Geld, bleibt es stiller – und auf einer Insel, die vom Klang der Sommersaison lebt, wäre das fatal.

Nach französischem Recht müssen seit 2020 die Plattformen selbst die Abgabe einziehen, ordnungsgemäß erklären und an die zuständigen Gemeinden weiterreichen – zumindest dann, wenn Privatpersonen ihre Unterkünfte über diese Portale vermieten. Damit entstand erstmals eine klare Haftungskette. Wer den Geldfluss kontrolliert, trägt die Verantwortung. Ganz einfach klingt das in der Theorie, in der Praxis jedoch schwankte die Bereitschaft mancher Plattformen, die Vorgaben vollständig umzusetzen. Vielleicht aus technischen Gründen, vielleicht aus Prioritätensetzung. Auf Oléron schüttelte man darüber nur den Kopf.

Für Bürgermeister:innen und Finanzbeauftragte ist das Urteil ein Durchbruch. Es zeigt, dass auch eine kleine kommunale Verwaltung in der Lage ist, internationale Unternehmen zur Rechenschaft zu ziehen. Und es sendet einen Ton, der weit über die Atlantikküste hinaus hörbar ist. So wie der Leuchtturm von Chassiron seine Lichtsignale über die See trägt, markiert diese Gerichtsentscheidung die Richtung für andere Gemeinden, die ähnliche Versäumnisse vermuten.

Das Urteil betrifft allerdings nicht nur juristische Feinheiten. Es stellt die Frage nach Gerechtigkeit im digitalen Zeitalter neu. Plattformen profitieren massiv davon, dass Besucherströme in Ferienregionen fließen, sie leben von der Attraktivität der Orte. Doch tragen sie auch den gleichen Anteil an der Finanzierung dieser Attraktivität? Für viele Verantwortliche lautet die Antwort: bisher nicht ausreichend. Und genau hier liegt der Kern der Auseinandersetzung: Wirtschaftliche Wertschöpfung fließt über Landes- und Kontinentgrenzen, doch die Kosten bleiben vor Ort.

Man spürt in den Gesprächen mit Akteurinnen und Akteuren aus der Region eine Mischung aus Stolz und Erleichterung. Nicht triumphal, sondern resolut – wie jemand, der nach langer Überzeugungsarbeit endlich Gehör findet. Im Café am Hafen von Saint-Denis erzählte mir ein alter Vermieter, halb im Scherz, halb im Ärger: „Die Plattformen tun oft so, als würden sie nur digital vermitteln. Aber bei uns schlafen echte Menschen in echten Betten.“ Ein Satz aus dem Alltag, der die Lage auf den Punkt bringt.

Die Gerichte folgen nun dieser Logik. Plattformen sind keine schwebenden Mittler am Rande der Gesetzgebung, sondern wirtschaftliche Akteure, die sowohl Rechte als auch Pflichten haben. Und wenn eine Inselgemeinde die Geduld verliert, kann selbst ein globales Unternehmen ins Taumeln geraten.

Die Geschichte ist damit nicht beendet. Andere Regionen werden genauer hinschauen, ob ihre eigenen Einnahmen stimmen, ob auch bei ihnen Lücken entstanden sind. Manche Bürgermeister dürften jetzt, ganz bodenständig, die alten Jahresberichte hervorholen und prüfen, was ihnen bislang entgangen ist. Es wäre nicht überraschend, wenn Oléron unerwartet zu einer Art Vorbild würde – ein kleines Labor für digitale Steuerfairness.

Und doch bleibt die zentrale Frage bestehen: Wie schafft man es, den digitalen Tourismus mit der Realität der Orte, die ihn tragen, in Einklang zu bringen? Die Antwort wird von Fall zu Fall unterschiedlich ausfallen. Aber Oléron hat zumindest gezeigt, dass der erste Schritt nicht darin besteht, nachzugeben, sondern hartnäckig zu bleiben – wie ein Inselbewohner, der den Wind kennt und trotzdem hinausfährt.

Autor: Daniel Ivers

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