Tag & Nacht


Die humanitäre Krise im Gazastreifen hat eine neue dramatische Dimension erreicht. Laut einem am 29. Juli veröffentlichten Bericht des IPC (Integrated Food Security Phase Classification), einem internationalen Instrument zur Bewertung von Ernährungssicherheit, ist der „schlimmste Fall einer Hungersnot“ in der palästinensischen Enklave bereits Realität. Der Bericht basiert auf einer Analyse internationaler UN-Organisationen, humanitärer NGOs und regionaler Partner und zeichnet ein Bild, das kaum noch schlimmer sein könnte: Tausende Kinder sind akut unterernährt, die Versorgungslage ist zusammengebrochen, und internationale Hilfsmechanismen greifen kaum noch.

Eine Katastrophe mit Ansage

Seit dem 7. Oktober 2023, dem Beginn der israelischen Militäroffensive als Reaktion auf den Terrorangriff der Hamas, hat sich die Lage in Gaza kontinuierlich verschärft. Doch die aktuelle Bewertung des IPC, einer Methodik, die weltweit zur Einschätzung von Hungersituationen eingesetzt wird, markiert einen Wendepunkt. Demnach befinden sich derzeit alle rund 2,2 Millionen Bewohner des Gazastreifens in einer kritischen Ernährungssituation. 495.000 Menschen – mehr als ein Fünftel der Bevölkerung – gelten als akut vom Hungertod bedroht (Phase 5: „Katastrophe/Hungersnot“). Das ist das erste Mal, dass eine ganze Bevölkerung in einem solchen Ausmaß betroffen ist.

Besonders dramatisch ist die Lage für Kinder: Laut IPC wurden allein zwischen April und Mitte Juli über 20.000 Kinder wegen akuter Mangelernährung medizinisch behandelt – darunter mehr als 3.000 mit schwersten Symptomen. Mindestens 16 Kinder unter fünf Jahren starben seit dem 17. Juli an den Folgen von Hunger und Unterversorgung. Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher liegen.

Humanitäre Hilfe: Tropfen auf den heißen Stein

Trotz internationaler Anstrengungen bleibt die humanitäre Hilfe unzureichend. Zwar wurden laut israelischen Angaben am Montag rund 200 Hilfslastwagen durchgelassen, weitere 260 warteten auf die Entladung. Doch laut UN müssten täglich mindestens 500 bis 600 Hilfstransporte erfolgen, um die Grundbedürfnisse der Bevölkerung zu decken. Die seit März verstärkt eingesetzten Luftabwürfe durch Jordanien, die USA und andere Staaten seien laut IPC zwar symbolisch wichtig, aber logistisch ineffizient. Der Leiter des IPC-Analysekomitees warnte: „Die derzeitigen Maßnahmen reichen bei weitem nicht aus, um das Ausmaß der Katastrophe zu begrenzen – geschweige denn umzukehren.“

Zivilbevölkerung unter Dauerbeschuss

Parallel zur humanitären Notlage setzen sich die Kampfhandlungen fort. Trotz einer von Israel angekündigten „taktischen Feuerpause“ kam es in den vergangenen Tagen zu schweren Luftangriffen – etwa auf das Flüchtlingslager Nousseirat im Zentrum des Gazastreifens. Laut Angaben der örtlichen Gesundheitsbehörden wurden dabei 30 Menschen getötet, darunter 14 Frauen und 12 Kinder. Das Al-Awda-Krankenhaus bestätigte den Eingang entsprechender Leichname. Beobachter sehen in solchen Angriffen eine weitere Verschärfung der humanitären Krise, da medizinische Einrichtungen und zivile Infrastruktur systematisch beschädigt oder zerstört werden.

Internationale Reaktionen: Abwesenheit spricht Bände

In New York tagt derzeit eine Sonderkonferenz der Vereinten Nationen zur Palästinafrage. Doch zwei zentrale Akteure fehlen demonstrativ: Israel und die Vereinigten Staaten. Israels Botschafter in Paris, Joshua Zarka, bezeichnete das UN-Treffen als „Farce“ und warf den Teilnehmern vor, bloße Symbolpolitik zu betreiben. Die Abwesenheit Washingtons ist insofern bedeutsam, als die USA als wichtigster Verbündeter Israels und gleichzeitig einer der größten Geber humanitärer Hilfe in Gaza gelten.

UN-Generalsekretär António Guterres appellierte unterdessen erneut an alle Konfliktparteien, den Schutz der Zivilbevölkerung sicherzustellen und humanitäre Zugänge zu garantieren. Doch auf diplomatischer Ebene bleibt der Handlungsspielraum begrenzt – nicht zuletzt wegen der Vetomacht der USA im UN-Sicherheitsrat.

Die aktuelle Lage im Gazastreifen ist eine humanitäre Katastrophe historischen Ausmaßes. Die internationale Gemeinschaft steht vor der Frage, ob sie in der Lage ist, einem sich vor aller Augen abspielenden Massensterben entgegenzuwirken – oder ob sich Gaza in eine Zone völliger Verwahrlosung und Vernachlässigung verwandelt, die als moralischer Bankrott der Weltgemeinschaft in die Geschichte eingehen könnte.

Autor: Andreas M. Brucker

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