Am 9. Mai 2025, dem 80. Jahrestag der Befreiung Europas vom Nationalsozialismus, ist Margot Friedländer im Alter von 103 Jahren in Berlin gestorben. Ihr Tod an genau jenem Tag, der in Deutschland als Tag der Befreiung begangen wird, verleiht dem Abschied eine tiefere symbolische Bedeutung – und rückt ein Leben in den Vordergrund, das wie kaum ein anderes für Erinnerung, Versöhnung und den unermüdlichen Kampf gegen das Vergessen stand.
Überleben im Schatten der Vernichtung
Margot Friedländer wurde 1921 in Berlin-Kreuzberg als Tochter einer jüdischen Familie geboren. Die politischen Umwälzungen nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten veränderten ihr Leben grundlegend. Ab 1933 wurde sie mit wachsender Ausgrenzung und schleichender Entrechtung konfrontiert. 1943 erfolgte die Deportation ihrer Mutter und ihres Bruders nach Auschwitz – beide wurden ermordet. Friedländer selbst tauchte unter, lebte monatelang mit falscher Identität in Berlin, bis sie 1944 verhaftet und ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert wurde. Sie überlebte – als Einzige ihrer unmittelbaren Familie.
In späteren Jahren erinnerte sie sich an diesen Teil ihres Lebens mit großer Klarheit, aber ohne Bitterkeit. Ihre Stimme blieb stets geprägt von der Haltung, die Menschlichkeit selbst unter unmenschlichen Bedingungen nicht zu verlieren. Der letzte Satz ihrer Mutter, „Versuche, dein Leben zu machen“, wurde zu einer Lebensmaxime.
Rückkehr und eine späte Heimat
Nach dem Krieg wanderte Friedländer mit ihrem Mann in die Vereinigten Staaten aus, wo sie über sechs Jahrzehnte lebte. Die Rückkehr nach Berlin im Jahr 2010, nach dem Tod ihres Mannes und mit fast 89 Jahren, war ein Akt der Selbstvergewisserung und der historischen Verantwortung. Friedländer entschloss sich bewusst dazu, ihre Erinnerungen öffentlich zu machen – als Stimme einer Generation, deren Zeugenschaft mit den Jahren immer seltener geworden ist.
Ihr Engagement richtete sich vor allem an die Jugend: Schulbesuche, Lesungen und Vorträge wurden zu ihrem täglichen Leben. Dabei war ihre Botschaft stets eine des menschlichen Miteinanders. Friedländer vermied einfache Schuldzuweisungen, doch sie appellierte eindringlich an eine kollektive Verantwortung für das Geschehene. Ihre Erzählungen verbanden das Konkrete – Orte, Gesten, Begegnungen – mit der ethischen Mahnung, dass Demokratie, Empathie und Achtung vor dem Anderen keine Selbstverständlichkeiten seien.
Ein öffentliches Leben im hohen Alter
Auch jenseits des Erinnerns wurde Friedländer zur moralischen Instanz. Sie erhielt zahlreiche Ehrungen, darunter das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland und die Ehrenbürgerwürde Berlins. Ihre Autobiografie, zahlreiche Interviews und ihre Präsenz in Dokumentationen machten sie zu einer der bekanntesten Zeitzeuginnen des Holocaust in Deutschland.
Ihr Auftritt zwei Tage vor ihrem Tod bei einer zentralen Gedenkveranstaltung zum 8. Mai 1945 wurde zum Vermächtnis. Ihre Worte „Bitte seid Menschen!“ – gesprochen mit fester Stimme, aber zugleich durchdrungen von einer stillen Dringlichkeit – fassten die Essenz ihres Wirkens in drei Worte. Es war kein pathetischer Appell, sondern eine zutiefst persönliche Bitte, gespeist aus Erfahrung und Überzeugung.
Bedeutung für die politische Kultur
Friedländers Leben zeigt exemplarisch, wie Erinnerung zur aktiven gesellschaftlichen Gestaltung beitragen kann. Ihre Biografie durchlief alle Stationen des 20. Jahrhunderts: Diktatur, Flucht, Exil, Wiederkehr und Engagement. In einer Zeit, in der rechtsextreme Kräfte in Europa wieder an Zulauf gewinnen und antisemitische Übergriffe zunehmen, war ihre Stimme ein Gegengewicht – nicht durch Lautstärke, sondern durch Authentizität.
Bundespräsident Steinmeier sprach von einem „Geschenk“, das Friedländer Deutschland gemacht habe. Dies ist keine Übertreibung: In einer Gesellschaft, die zunehmend um kollektive Identität ringt, war Friedländers leiser, aber bestimmter Ton ein Ankerpunkt für historische Verantwortung. Sie machte deutlich, dass Erinnern nicht Selbstzweck ist, sondern eine Frage der Gegenwart.
Ihr Tod markiert das Ende einer Epoche – jener der unmittelbaren Zeitzeugenschaft. Doch ihre Wirkung bleibt. Nicht nur in Form von Auszeichnungen, sondern vor allem in den Erinnerungen jener, denen sie begegnet ist. Ihre Präsenz in Schulklassen, in Fernsehstudios, auf öffentlichen Podien – all dies bleibt dokumentiert und wirksam.
Ihr Leben fordert auf zur Auseinandersetzung, zur Wachsamkeit, zur Menschlichkeit. In diesem Sinne war Margot Friedländer nicht nur eine Zeugin der Geschichte, sondern eine Gestalterin der demokratischen Kultur in Deutschland. Sie hat diese Gesellschaft verändert – nicht durch Macht, sondern durch Glaubwürdigkeit.
Margot Friedländer hat ihr Leben gemacht. Nun liegt es an uns, daraus Verantwortung zu schöpfen.
Von Andreas Brucker
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