Antibes, bekannt für seine Strände, seine Altstadt und den Duft von Pinien, steht in diesem Herbst 2025 im Zentrum einer Krise, die niemand so recht auf der Landkarte Frankreichs erwartet hätte: eine nie dagewesene Welle von Chikungunya-Erkrankungen. Mehr als 120 bestätigte Fälle in nur wenigen Wochen – mitten in einer kleinen französischen Mittelmeerstadt. Für die Behörden ein Alarmsignal, das eine Maßnahme auslöste, die man bisher nur aus den Tropen kannte: die größte Mücken-Bekämpfungsaktion, die jemals in Frankreich durchgeführt wurde.
Ein Szenario, das auf den ersten Blick surreal wirkt. Doch es zeigt, wie nah globale Gesundheitsrisiken inzwischen auch an den Alltag in Europa gerückt sind.
Vom Einzelfall zum Epizentrum
Chikungunya – der Name klingt exotisch, stammt aus dem Swahili und bedeutet so viel wie „der gekrümmte Gang“, ein Hinweis auf die starken Gelenkschmerzen, die Betroffene plagen. Übertragen wird das Virus durch Stechmücken der Gattung Aedes, allen voran die berüchtigte Tigermücke.
Bis vor wenigen Jahren galten autochthone Fälle in Frankreich, also Infektionen ohne Reisehintergrund, als absolute Ausnahme. Doch 2025 markiert einen Wendepunkt: In 38 Städten wurden Infektionen bestätigt, allein in der Region Provence-Alpes-Côte d’Azur mehr als 300. Und Antibes gilt mittlerweile als das Zentrum dieser Ausbreitung – mit über 120 lokalen Fällen, Tendenz steigend.
Das Problem: Die Mittelmeerküste vereint alle Faktoren, die das Virus begünstigen – warme Temperaturen bis in den Herbst hinein, hohe Mückendichte, dichte Bebauung. Was früher importierte Einzelfälle waren, hat sich in Antibes zu einer lokalen Epidemie entwickelt.
Die Mückenbekämpfung: ein nächtliches Großmanöver
Die Antwort der Behörden fiel spektakulär aus. Gemeinsam mit der lokalen Gesundheitsbehörde ARS, der Präfektur und der Stadt Antibes organisiert die EID Méditerranée, zuständig für die Mückenbekämpfung am Mittelmeer, eine Aktion, die an eine logistische Militärübung erinnert.
- 13 Kilometer Straßenabschnitte wurden behandelt.
- 38 Wohnanlagen mit Gärten nahmen an der Aktion teil.
- Zum Einsatz kam ein Insektizid auf Basis von Deltamethrin, das in einem Umkreis von 50 Metern rund um betroffene Wohngebiete versprüht wurde.
- Alles geschah nachts, zwischen Dienstag und Mittwoch, um Menschen und Haustiere so wenig wie möglich zu belasten.
Über das Warnsystem FR-Alert und Aushänge wurden die Bewohner informiert: Fenster schließen, Wäsche und Haustiere ins Haus holen, Gemüse aus dem Garten drei Tage lang nicht essen. Wer durch Antibes spazierte, erlebte leere Straßen, während Fahrzeuge der Demoustikation wie geisterhafte Patrouillen durch die Viertel rollten.
Wirksam, aber nicht endgültig
Die Aktion klingt beeindruckend – doch reicht sie aus? Experten sind sich einig: Die Mückenbekämpfung ist eine Sofortmaßnahme, aber kein dauerhafter Schutz.
- Begrenzte Wirkung: Die Chemie tötet erwachsene Mücken, nicht aber Larven oder Eier. Schon nach wenigen Tagen können neue Populationen schlüpfen.
- Umweltfragen: Auch wenn Deltamethrin als sicher gilt, bleibt es ein Insektizid. Risiken für Insektenvielfalt und empfindliche Menschen wie Kinder oder Schwangere sind nicht vollständig ausgeschlossen.
- Kosten und Aufwand: Solche großflächigen Operationen sind teuer und logistisch aufwendig. Man kann sie nicht beliebig wiederholen.
- Mithilfe von Bürgern: Ohne die Mithilfe der Bevölkerung – das Entfernen von Wasseransammlungen in Blumentöpfen, Regentonnen, Dachrinnen – ist eine solche Maßnahme nur ein Tropfen auf den heißen Stein.
Der unsichtbare Gegner: Klima und Urbanisierung
Warum gerade jetzt? Eine Erklärung liegt in den klimatischen Bedingungen. Der Sommer 2025 brachte Hitzewellen und langanhaltende Wärme bis in den September hinein. Genau das liebt die Tigermücke: mehr Brutzyklen, längere Aktivität.
Dazu kommt die Verdichtung der Städte: kleine Gärten, Hinterhöfe, Balkone – ideale Brutplätze in der Gießkanne, im Blumentopfuntersetzer, in vergessenen Eimern. Das urbane Leben selbst wird zum Nährboden für das Virus.
Brauchen wir einen Strategiewechsel?
Die Demoustikation von Antibes ist ein deutliches Signal: Frankreich nimmt das Risiko ernst. Doch die Aktion wirkt wie ein Feuerwehrschlauch gegen ein loderndes Feuer – sie löscht die Flammen, nicht aber die Glut.
Die langfristige Strategie muss umfassender werden:
- Intensivere Überwachung: Ärzte und Labore müssen Fälle sofort melden, damit gezielt reagiert werden kann.
- Bürgerbeteiligung: Aufklärungskampagnen, die wirklich im Alltag ankommen – vom Schulgarten bis zur Nachbarschaftsgruppe.
- Stadtplanung: Mehr Augenmerk auf Wasserabläufe, Begrünung ohne stehende Feuchtigkeit.
- Forschung und Innovation: Neue Methoden wie Mückenfallen, biologische Kontrolle mit sterilen Männchen oder gentechnische Ansätze stehen längst in den Startlöchern.
Antibes als Weckruf
Was bleibt? Antibes ist nicht nur ein lokaler Hotspot. Die Stadt ist ein Weckruf für Frankreich und Europa. Krankheiten, die man lange als „tropisch“ etikettiert hat, sind Teil unserer neuen Realität geworden.
Die Demoustikation war notwendig – vielleicht die einzige Sofortmaßnahme, um das Virus einzudämmen. Aber sie ist kein Zaubertrick, kein endgültiger Schutz. Die eigentliche Herausforderung liegt darin, Gesellschaft und Infrastruktur so anzupassen, dass Mücken nicht mehr so leichtes Spiel haben.
Und vielleicht stellt sich bald die entscheidende Frage: Werden wir lernen, mit diesen neuen Gesundheitsgefahren zu leben – oder rennen wir dem Problem jedes Jahr aufs Neue hinterher?
Autor: Andreas M. B.
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